Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Annabell, nachdem das Wiedersehen ausreichend zelebriert war.
Ich erzählte ihr alles, von dem Verlies, in das man mich gebracht hatte, über Osborne und dessen Anschuldigungen bis hin zum Eingreifen des Captains und des Richters.
„Oh mein Gott“, Annabell war fassungslos. „Woher wissen sie es bloß?“
„Ich vermute, es hat mit der Kanzlei zu tun. Mein früherer Chef muss mich angezeigt haben. Anders kann ich es mir nicht erklären. Wir waren immer so vorsichtig. Nie hat uns jemand gesehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es jemand aus der Stadt war.“
Annabell schwieg nachdenklich.
„Oder es war der Reverend“, mutmaßte ich und beichtete ihr, dass ich es im Krankenhaus so hatte aussehen lassen, als wäre Annabell in jeder Hinsicht meine Geliebte, um McCandle zu treffen. Was, wenn dieser seine Quasi-Enkeltochter doch vor mir schützen und mich auf diesem Weg hinterrücks abservieren wollte? Er musste davon ausgehen, dass unsere Beziehung auf Gegenseitigkeit beruhte und Annabell es ihm übel nehmen würde, wenn er offen gegen mich vorging.
„Auf keinen Fall“, erwiderte Annabell vehement, „der Reverend würde so etwas niemals tun. Er würde mit uns reden und Dich nicht heimlich anzeigen.“
„Mag sein. Unabhängig von der Frage, wer uns das eingebrockt hat“, fuhr ich fort, „müssen wir natürlich das auslöffeln, was derjenige uns eingebrockt hat: Falls Lieutenant Osborne schon Leute aus der Stadt befragt hat, sprechen sich die Anschuldigungen doch in Windeseile herum. Wenn die Leute etwas zum Reden haben, dann reden sie. Ob es wahr ist oder nicht, spielt doch keine Rolle.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute hier so einem Gerücht glauben. Alle kennen mich. Sie mögen mich auch – glaube ich zumindest. Sie werden es als dummen Klatsch abtuen.“
„Sicher mögen Dich die Leute. Jeder, der Dich kennt, kann gar nicht anders, als Dich zu mögen. Aber dass sie die Geschichte nicht glauben? Wichtig ist, dass Du die Sache eindeutig abstreitest, wenn die Polizei Dich befragt.“
„Natürlich werde ich das. Wir haben schließlich gar nichts getan – leider – ich würde gern mehr haben, was ich abstreiten kann. Es ist einfach so ungerecht. Wir lieben uns. Beide. Es ist ja nicht so, als ob Du mich zwingen müsstest.“
„Ganz genau. Es wäre im Gegenteil eher so, dass Deine Reize eine unwiderstehliche, einen freien Willensentschluss ausschließende Gewalt auf mich ausüben würden – vis absoluta sagen die Juristen dazu. Ich könnte gar nicht von Dir lassen. Die Täterin wärest eigentlich Du.“
„Spinner.“
„Aber Spaß beiseite: Das Gesetz ist nicht immer gerecht. Aber es ist das Gesetz und selbst dort, wo wir es im konkreten Fall nicht akzeptieren können, müssen wir es zumindest als Realität anerkennen und uns damit arrangieren. Wir können also nur hoffen, dass der Captain für eine Einstellung des Verfahrens sorgen kann und dass der Vorwurf sich nicht herumspricht, oder falls er sich herumspricht, dass die Leute ihn schnell vergessen.“
Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht.
76. Kapitel
Annabell wurde gleich zu Beginn der kommenden Woche im Beisein des Reverends vom Captain persönlich vernommen, dem es äußerst peinlich war, das junge Mädchen mit dem Tatvorwurf, dessen Unbegründetheit für ihn feststand, zu konfrontieren. Osborne stand daneben und machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, als Annabell voller Empörung jegliche Bande zwischen uns abstritt, die über ein übliches geschwisterliches Verhältnis hinausgingen. Sie wirkte dabei vollkommen überzeugend, sodass der Reverend, den wir mittlerweile ins Vertrauen gezogen hatten, regelrecht erschüttert darüber war, wie gekonnt sie zu lügen verstand. Das Ermittlungsverfahren wurde auch tatsächlich eingestellt, die Akte geschlossen. Osbornes öffentlicher Glanz als Sittenwächter blieb aus. Der Staatsanwalt musste auf ein pressewirksames Verfahren verzichten. Und doch hatte das Verfahren irreparablen Schaden angerichtet.
Es war Samstag und Annabell und ich saßen am Frühstückstisch. Ich genoss ein ofenfrisches Brötchen mit einer Salami mit Trüffeln und Parmesankäse nach original italienischem Rezept und den Anblick meines kleinen Lieblings, der in einem geblümten Babydoll-Nachthemd die South Port Gazette studierte, eine lokale Wochenzeitung, die sich mit Kleinanzeigen finanzierte.
„Das kann doch nicht wahr sein. Ethan, sieh Dir das mal an“, aufgeregt,
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