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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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niemand – der Vorteil der Großstadt: Man kann unerkannt machen, was man will. Man ist anonym. Ich könnte wieder als Rechtsanwalt arbeiten. Ich habe nächste Woche ein Gespräch mit einer Kanzlei.“
    Tatsächlich hatte ich ein Bewerbungsgespräch. Ich wollte sobald wie möglich wieder arbeiten und hatte meine Fühler nach Boston ausgestreckt. Es war mir gelungen, einen Termin bei Baker & Butcher mit niemand anderem als Bernard St.Clair zu bekommen. Alle anderen Kanzleien in der Stadt hatten sich bis jetzt sehr zurückhaltend gezeigt und mir allenfalls in Aussicht gestellt, dass man sich bei mir melden würde. Das hieß im Klartext, sie hatten kein Interesse. Auch eine Personalvermittlungsagentur hatte keine Offerten in meinem Gehaltssegment vorweisen können.
    Das Gespräch mit St.Clair sollte um 11.30 Uhr stattfinden. Um 11.15 Uhr betrat ich den Empfangsbereich der Kanzlei und meldete mich an. Eine gut aussehende Frau afroamerikanischer Abstammung, die sich als St.Clairs Sekretärin vorstellte, holte mich keine fünf Minuten später dort ab und geleitete mich ein Stockwerk höher in das Büro ihres Meisters.
    Das Büro hatte einen enttäuschenden Ausblick, denn es blickte direkt auf ein Nachbargebäude. Dafür war es mit erlesenen Antiquitäten ausgestattet. Die Möbel waren aus dunklem Ebenholz gearbeitet. Ich schätzte sie als spanische oder italienische Arbeiten aus dem 16. Jahrhundert ein. St.Clair saß auf einem thronartigen Sessel mit gedrehten Beinen und Lehnelementen, der mit rotem Samt bespannt war und dem Aussehen nach ohne Weiteres einem Mitglied der heiligen Inquisition gehört haben mochte. Der Kontrast zwischen den alten Möbeln auf der einen Seite und der Glasfensterwand und den modernen Gemälden auf der anderen Seite erzeugte eine unterschwellige Spannung im Raum.
    St.Clair erhob sich von seinem Thron, musterte mich für einen Moment, ein joviales Lächeln auf den Lippen, und kam mir zur Begrüßung entgegen: „Meyers, willkommen in den heiligen Hallen von Baker & Butcher. Nehmen Sie doch bitte Platz.“
    Er bot mir etwas zu trinken an und wir setzten uns an einen Besprechungstisch.
    „Ich war schon ein wenig gespannt auf unser Treffen heute, Meyers.“
    „Tatsächlich, Mr. St.Clair? Das freut mich. Und mir geht es ebenso. Baker & Butcher ist eine großartige Kanzlei.“
    „Eine großartige Kanzlei lebt von großartigen Mitarbeitern.“
    „Die sich stets ihrer Verantwortung für die Organisation bewusst sein und sich mit ganzer Kraft und Kreativität dafür einsetzen sollten“, ergänzte ich.
      „Auf der Suche nach solchen Köpfen halten wir unsere Augen und Ohren immer offen. Aber es gibt einen ganz konkreten Grund für meine Einladung an Sie, etwas, das ich Sie fragen wollte.“
    Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein könnte. Also sagte ich: „Bitte. Was wollten Sie mich fragen?“
    Er neigte sich mit dem Oberkörper zu mir vor:
    „Ich wollte Sie fragen, …“ sein Lächeln gefror, „ob Sie wirklich, diesen eingebildeten kleinen Landarzt mit seinen lächerlichen Zweihunderttausend zu mir geschickt und damit Baker & Butcher eine halbe Stunde abrechenbarer Zeit und mir Atem und Energie gestohlen haben, Meyers?“
    Heppleton.
    „Sie wollten sich damit über mich lustig machen“, ereiferte St.Clair sich weiter, „und haben nun noch die Chuzpe, sich bei Baker & Butcher zu bewerben. Ich fasse es nicht.“
    Damit war das Gespräch gelaufen, bevor es richtig begonnen hatte. Mir blieb nur der Rückzug.
    „Ich sehe ein, dass ich meine Bewerbung zurückziehen muss. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mr. St.Clair. Danke, dass Sie Ihre Zeit für mich geopfert haben.“
    Ich hatte mich schon erhoben, als St.Clairs steinerne Miene aufbrach und er amüsiert erwiderte:
    „Nun bleiben Sie schon sitzen Meyers. Ich pariere nur den Streich, den Sie uns gespielt haben. Glauben Sie, ich hätte Sie nur eingeladen, um Sie zu demütigen? Dafür wären Sie zu unwichtig, glauben Sie mir. Die Wahrheit ist: Sie gefallen mir. Sie haben mir schon damals gefallen in der Besprechung mit DeVere. Wie geschickt sie mich, uns alle, ausgeknockt haben. Das hat mich beeindruckt.“
    Ich setzte mich wieder. St.Clair fuhr fort:
    „Aber das Beste ist: Hawthorne hasst Sie mittlerweile wie der Teufel das Weihwasser. Wenn ich Sie einstelle, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich wische dem alten Mann von der Clarendon Street eins aus und rekrutiere ein vielversprechendes Talent für

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