Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
enge Jeans und eine modische Brille. Sein italienischer Akzent war so aufdringlich, dass man sich fragen musste, ob er tatsächlich echt war, oder nur Teil des Ambientes. „Isch abe Euchä einen Tiischä am Fänsta reserviirt.“
Nahezu alle seiner acht Tische, die L-förmig um einen Tresen arrangiert waren, standen unmittelbar an der Glasfront, die eine komplette Längsseite des L einnahm. An der Wand, die der kurzen Außenseite des L entsprach, hingen großflächige Schwarz-Weiß-Fotographien – überwiegend solche, die Alberto in verschiedenen Posen zeigten.
Wir dankten ihm und nahmen unsere Plätze ein. Möglicherweise war es Paranoia, doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die übrigen Gäste uns länger als üblich mit ihren Blicken verfolgten. Annabell musste es ähnlich ergehen, denn sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und sah mehr als einmal möglichst unauffällig über ihre Schulter. Obwohl wir uns Mühe gaben, das Essen zu genießen, wollte keine rechte Unterhaltung aufkommen und wir betrachteten überwiegend das Treiben auf der Straße.
Während wir mit einem Glas Limonade und einem alkoholfreien Bier auf den Reverend anstießen, dessen fortdauernde finanzielle Unterstützung uns den Besuch bei Alberto überhaupt ermöglichte, betrat ein Paar das Restaurant und wurde von Alberto, dessen Begrüßung der beiden mir noch überschwänglicher erschien als die unsere, zu einem Tisch unter Albertos Ego-Galerie geführt. Ich hätte mich mehr für meine Weinbergschnecken in Knoblauchöl und weniger für die mit mehreren dicken Perlenketten behangene Matrone mit dem hageren Pferdegesicht und ihren Anhang interessiert, hätte sie nicht unentwegt zu unserem Tisch herüber gestarrt. So kam ich indessen nicht umhin, mich zu fragen, ob sie den Artikel gelesen hatte.
Das Starren dauerte nur eine Minute und ich hatte das Gefühl, beobachten zu können, wie das Mitteilungsbedürfnis in ihr wuchs, bis es an ihren Mann gerichtet aus ihr herausplatzte: „Da ist diese kleine Schlampe mit ihrem Bruder. Siehst Du sie? In aller Öffentlichkeit. Widerlich ist das. Einfach widerlich. Hast Du sie nicht gesehen, Herbert?“
Sie hatte definitiv den Artikel gelesen. Anscheinend war allerdings für sie nicht ich der Hauptverdächtige.
Die Verachtung, der sie in unüberhörbarer Lautstärke Ausdruck verlieh, schmetterte zu uns herüber wie ein Donnerschlag, der Annabell körperlich erschütterte. Sie zuckte regelrecht zusammen und ihre Gabel samt deren Ladung von Vitello Tonnato fiel laut scheppernd zu Boden. Ihr Blick verriet, dass nicht nur ich jedes Wort verstanden hatte.
Herbert dagegen schien gar nichts wahrgenommen zu haben, denn es bedurfte einer gezischten Ermahnung seiner Gattin, ihn von den langen gebräunten Beinen der jungen Kellnerin abzulenken, die seiner Frau und ihm Rotwein einschenkte. Resigniert wandte er sich um, legte die Stirn in Falten und warf über den Rand seiner Lesebrille, mit der er die Speisekarte studiert hatte, bevor er durch die Ankunft des Weins so angenehm unterbrochen worden war, einen gelangweilten Blick in unsere Richtung. Daraufhin murmelte er etwas wie „Du hast recht, Liebes, das sind die beiden“ oder irgendeine andere Zustimmung, denn im Gesicht seiner Frau wich die unerbittliche Härte für einen Augenblick triumphaler Genugtuung.
Ich beschrieb Annabell, die sich nicht die Blöße geben wollte, sich umzudrehen, das Aussehen der beiden.
„Das ist Gloria Fitzallan Patrick“, flüsterte sie mir zu. „Ihrer Familie hat die Fitzallan-Patrick-Werft gehört, die vor ein paar Jahren schließen musste. Sie ist die Präsidentin des gemeinnützigen Vereins, der South Port Horticultural Society und im Vorstand oder Mitglied jeder anderen angesehen Vereinigung der Stadt. Ihr Mann Herbert, der übrigens ihren Namen angenommen hat, war der Assistent ihres Vaters in der Werft.“
„Jetzt scheint er ihr Assistent zu sein.“
„Kann schon sein. Obwohl er sich früher mehr für das Hausmädchen interessiert hat.“
„Für das Hausmädchen? Woher weißt Du das?“
„Der Sohn von Constancia ist früher mit mir zur Schule gegangen. Als sie weggezogen sind, hat er mir und Cathy erzählt, dass seine Mutter Geld bekommen hat, weil niemand wissen soll, wer sein Vater ist.“
„Herbert?“
„Das Geld kam vom alten Mr. Fitzallan Patrick.“
„Weiß sie das?“
„Das weiß ich nicht. Falls ja, würde das erklären, warum sie so biestig ist.“
„Oder er hat sich
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