Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Constancia zugewendet, weil sie so biestig ist.“
„Mir tut sie auf jeden Fall leid.“
Gloria ließ es nicht bei der einen Bemerkung beenden. Noch während unseres Hauptgerichts beobachtete sie uns und redete unaufhörlich auf ihren Mann ein. Die Lautstärke war dabei so gedämpft, dass ich nicht jedes Wort verstehen konnte, aber Worte wie „kleines Miststück“ oder „Blutschande“ ließen keinen Zweifel aufkommen, womit sie sich beschäftigte.
Ihr Monolog wurde nicht etwa durch Herberts Teilnahme, sondern dadurch unterbrochen, dass ein ebenfalls in die Jahre gekommener unmäßig beleibter Mann sich an ihren Nebentisch setzte, der die Eheleute Fitzallan Patrick freundschaftlich begrüßte. Der Glibberberg hatte sich in ein hautenges Sweatshirt mit dem Emblem eines imaginären Poloclubs, einer Startnummer und verschiedensten anderen Aufnähern gepresst, das jede Wulst seiner Leibesfülle in Übereinstimmung mit den Vorgaben der jungen Freizeitmode überdeutlich betonte und über dessen Kragensaum sein massiger Hals waberte, ohne eine Begrenzung durch einen Hemdkragen erleiden zu müssen. Gloria schien erfreut, einen interessierteren Gesprächspartner als ihren Mann gefunden zu haben, wies in unsere Richtung und die beiden begannen, sich miteinander über uns zu ereifern.
Annabell wurde während dessen immer stiller und stocherte in ihrem Essen herum. Als der Fettsack nach zwei Gläsern Weißwein in Albertos Richtung rief, „Ganz Recht, Gloria. Dass man hier Kinderschänder und ihre kleinen Huren bedient, ist wirklich eine Schande. Man sollte doch sehr überlegen, das Lokal zu wechseln“, kullerte eine Träne über ihre Wange.
Das war genug. Ich sprang von meinem Platz auf und wollte das feiste Gesicht zu Brei schlagen, doch Annabell, die das erkannte, hielt mich am Arm zurück: „Ethan, bitte tu das nicht. Lass uns gehen.“
Also bezahlten wir und verließen unter den hochmütigen Blicken Glorias und ihres Bekannten und zur sichtbaren Erleichterung Albertos das Lokal.
Nachdem Annabell sich beruhigt und auch mein Zorn sich etwas gelegt hatte, erzählte sie mir, dass der fette Kerl ein örtlicher Friseur war, der einem Freund von Cathys Bruder beim Haareschneiden schon einmal in den Schritt gefasst und Geld für sexuelle Gefälligkeiten geboten hatte.
„Dann ist es ja kein Wunder, dass er nichts für Mädchen in Deinem Alter übrig hat“, stellte ich fest und wir beide mussten lachen.
Das Lachen blieb uns allerdings im Halse stecken, als wir am Sonntag gemeinsam den Gottesdienst besuchten.
Schon als wir durch die Reihen der Bänke gingen, drehten sich viele Leute zu uns um und begannen miteinander zu tuscheln. Nur wenige erwiderten unseren Gruß. Als wir in die zweite Bankreihe traten, wo Annabell ihren angestammten Platz hatte, ein stilles Gebet sprachen und uns niederließen, erhob sich ein älteres Ehepaar neben uns, das einst mit Annabells Großmutter bekannt gewesen war, von seinen Plätzen und verließ demonstrativ die Kirche.
Annabell musste erneut mit den Tränen ringen, denn dieser Vorfall nahm sie noch mehr mit, als das Erlebnis bei Alberto. Schließlich waren wir in einem Gottesdienst, in einem Haus des christlichen Gottes und sie hatte erwartet, dass wir hier, vor allen anderen Orten, auf Freunde treffen würden, auf Brüder und Schwestern, die uns freundlich gesonnen waren und uns nicht verurteilen würden, ohne uns zumindest die Chance zu einer Stellungnahme zu geben. Doch obwohl diese Erwartung enttäuscht wurde, waren wir fest entschlossen zu bleiben, zumindest für die Dauer des Gottesdienstes.
78. Kapitel
Es stellte sich nun die Frage, wie unsere Zukunft in South Port aussehen würde. Wir diskutierten lange darüber und zerbrachen uns die Köpfe. Am Ende war es Annabell, die sich dafür aussprach, fortzulaufen: „Lass uns einfach gehen“, sagte sie, „irgendwohin, wo man uns nicht kennt, wo keiner weiß, dass ich Deine Schwester bin, wo keiner weiß, dass wir zusammen sind.“
„Bist Du Dir ganz sicher, dass Du das willst? Was ist mit dem Reverend und Onkel Charlton? Was ist mit Cathy, Jen, Deinen Freunden? Willst Du sie alle hier zurücklassen?“
„Das will ich nicht. Es fällt mir wahnsinnig schwer. Aber wenn ich mich entscheiden muss zwischen uns und den anderen, dann wähle ich uns. Was sollen wir hier machen? Uns ständig verstecken und das Gerede der Leute ertragen?“
„Vielleicht hast Du recht . Wir könnten nach Boston gehen. Dort kennt uns
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