Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
beruflich weiter gehen sollte, so wollte ich doch dieses Dasein nicht wieder aufnehmen.
Dieser gescheiterte Versuch der Rückkehr in mein altes Dasein hatte mir klar vor Augen geführt: Hätte ich St.Clairs Angebot angenommen oder, schlimmer noch, das von Hawthorne, ohne Annabell zu leben, so hätte ich am Ende meiner Tage feststellen müssen, dass ich überhaupt nicht gelebt hätte. Auch Jack, St.Clair und Hawthorne waren Versionen von mir, die ich inzwischen unter keinen Umständen mehr erleben wollte.
79. Kapitel
Als Annabell an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, erzählte ich ihr in groben Zügen von meinem Gespräch mit St.Clair. Die Details wollte ich ihr nicht zumuten.
„Es dürfte schwer für mich werden, in Boston eine gute Anstellung als Anwalt zu finden“, schloss ich meinen Bericht. „Ich habe zwei der besten Kanzleien der Stadt gegen mich aufgebracht. Hawthorne und St.Clair werden es sich nicht nehmen lassen, schmutzige Wäsche über mich zu waschen. Sie sind es ihrer Reputation und ihrem Selbstverständnis schuldig, mich zu zerquetschen. Es darf keine Schule machen, dass man sich gegen sie auflehnt.“
„Ich habe auch Neuigkeiten“, sagte Annabell.
„Keine guten, wie es aussieht. Du siehst bedrückt aus.“
„Wie man’s nimmt. Die erste ist, ich weiß jetzt, wer Dich angezeigt hat.“
„Wer? Der Reverend? Hat er es zugegeben?“
„Nein, es war nicht der Reverend. Es war Cathy. Sie hat es mir heute gebeichtet.“
„Cathy? Aber, woher wusste …“
„Woher sie es wusste? Weil ich es ihr erzählt habe. Ich habe ihr erzählt, dass wir uns lieben. Ich habe ihr aber auch gesagt, dass wir nicht … dass wir noch warten.“
Ich war bisher nie sonderlich wütend auf Annabell gewesen, aber in diesem Moment war ich es.
„Wie konntest Du das tun? Du setzt alles aufs Spiel. Ich gehe noch in den Knast deinetwegen“, herrschte ich sie an.
„Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.“
Und man konnte ihr ansehen, dass es so war. Mein Ärger löste sich so jäh auf, wie er gekommen war.
„Komm her“, sagte ich und schloss sie in die Arme. „Und dann erzähl es mir.“
„Na ja, Cathy ist meine beste Freundin. Und das mit uns ist eine große Sache für mich. Die größte Sache in meinem Leben bis jetzt. Ich musste es jemandem erzählen. Und ich wollte es jemandem erzählen, der es versteht. Der Reverend hätte sich nur unnötig Sorgen gemacht.“
„Also hast Du es Cathy erzählt. Aber warum hat Cathy es gleich der Polizei erzählt? Wollte sie Dich vor mir beschützen?“
„Nein. Im Gegenteil. Sie wusste, dass ich keinen Schutz nötig hatte. Sie war einfach eifersüchtig. Weil sie selbst in Dich verliebt ist. Sie sagt, sie konnte es nicht ertragen, dass ich Dich bekomme.“
Das klang so niederträchtig wie plausibel und war, wenn ich darüber nachdachte, auch nicht verwunderlich, wenn man bedachte, wie ich zu Beginn mit Cathy geflirtet hatte, um Annabell eifersüchtig zu machen.
So versuchten meine Leichtfertigkeiten schon ein zweites Mal, sich gegen mich zu wenden. Erst Heppleton bei St.Cair, nun Cathy bei der Polizei.
„Verstehe“, sagte ich ein wenig kleinlaut, setzte dann aber energisch hinzu, „aber sie ist Deine beste Freundin gewesen. Wie konnte sie Dein Vertrauen so missbrauchen?“
„Sie ist weiterhin meine beste Freundin.“
„Wie kannst Du über das, was Cathy getan hat, hinweggehen? Überleg nur, was dadurch passiert ist und noch alles hätte passieren können.“
„Es ist aber nicht passiert. Vielleicht, … weil es einfach nicht passieren soll, … weil eine schützende Hand über uns wacht.“
„Du meinst, es ist Vorsehung, dass wir zusammen sind? Ich weiß nicht recht. Vorsehung und freier Wille, schließt sich das nicht aus?“
Aber ich kam nicht umhin, an Annabells wundersame Heilung zu denken und die Vorstellung, dass Annabell und ich füreinander bestimmt waren, übte eine große Faszination auf mich aus.
„Aber Du hast Dich doch aus freien Stücken für uns entschieden, oder nicht? Und ich bete für uns.“
„Das tust Du?“
Ich hatte nie darüber nachgedacht, für Annabell und mich zu beten. Nach Annabells Genesung war mein Kontakt zu höheren Mächten gelinde gesagt ein wenig unstet geworden.
„Ja.“
„Na, es hat zumindest nicht geschadet. Ich bin froh, dass das Verfahren eingestellt worden ist.“
„Ich bin dankbar dafür. Und heute ist Cathy zu mir gekommen und hat mir alles gestanden. Es tut ihr wirklich
Weitere Kostenlose Bücher