Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
womöglich gewalttätiger Weise ausnutzen, müssen mit der vollen Härte des Gesetzes rechnen.’“
Ich war fassungslos. Für einen Augenblick fehlten mir die Worte, diesen Rufmord zu kommentieren.
„Wenn sie unsere Namen in den Artikel geschrieben hätten, wäre es auch nicht schlimmer gewesen. Nach dieser Beschreibung weiß sowieso jeder in der Stadt, von wem die Rede ist“, fasste Annabell das zusammen, was ich dachte.
„Schlimmer nicht, da hast Du recht, nur ehrlicher.“
„Nach dem Artikel müssen doch alle glauben, Du wärst schuldig.“
„Bin ich das denn nicht?“
„Selbstverständlich nicht. Du hast weder Gewalt ausgeübt noch hast Du mich überhaupt angerührt – nicht so wie sie meinen zumindest.“
„Aber ich möchte es nur zu gern. Ich mache Dich zu meiner Geliebten, auch wenn ich nicht mit Dir schlafe.“
„Und ich möchte nichts lieber sein als das.“
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Was sagt der Reverend dazu?“
Was Onkel Charlton sagen und tun würde, war mir klar.
„Als Du vorgestern nicht da warst, hat er sehr lange mit mir gesprochen und versucht, herauszufinden, ob es mir gut geht, so wie die Dinge liegen, ob ich das alles wirklich möchte, wie wir zueinander stehen, ob und wie sehr Du mich beeinflusst oder zu irgendetwas drängst, was ich nicht möchte. Er fühlt sich nicht ganz wohl mit uns. Er hat viele der Argumente mit mir besprochen, über die wir uns auch schon Gedanken gemacht haben. Ich habe ihm von der Möglichkeit der Sterilisation erzählt.
„Euer Fall zeigt einmal mehr, dass die modernen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung zu einer kritischen Überprüfung der traditionellen Sexualethik zwingen – ob uns das gefühlsmäßig gefällt oder nicht“, hat er gesagt.
Am Ende hat er eingeräumt, dass es viele Paare gibt, bei denen einer den anderen oder beide sich gegenseitig ausbeuten, selbstsüchtig und lieblos miteinander umgehen oder einander auf falsche Bahnen lenken, und dass das alles bei uns dem äußeren Anschein nach nicht so ist. Ich glaube, unter der Voraussetzung, dass wir mit der Nachwuchsplanung verantwortungsvoll umgehen, billigt er insgeheim unsere Beziehung, auch wenn er es sich selbst nicht ganz eingestehen kann.“
„Ich hatte erwartet, dass er noch einmal mit Dir spricht.“
„Die Frage ist nur, was wir jetzt machen. Vielleicht sollten wir uns für eine Weile bedeckt halten oder eine Zeit lang verreisen?“
„Das wäre das falsche Signal an die Leute hier. Das wäre wie ein Schuldeingeständnis. Außerdem muss einer von uns beiden zur Schule, oder etwa nicht?“
„Während der andere auf der faulen Haut liegt. Das stimmt wohl.“
„Während der andere sich langsam einmal um einen neuen Arbeitsplatz kümmern muss.“
Am Ende kamen wir überein, uns demonstrativ in der Stadt zu zeigen und den Artikel und all seine unterschwelligen Vorverurteilungen zu ignorieren, so als ob nichts gewesen wäre. Leider hatten die Einwohner von South Port nicht beschlossen, dasselbe zu tun.
77. Kapitel
Wenn man sich etwas vorgenommen hat, das vielleicht unangenehm zu werden verspricht, sollte man es so bald wie möglich tun, damit man nicht in Versuchung gerät, sich davor zu drücken. Also beschlossen Annabell und ich, die schützende Geborgenheit unseres kleinen Refugiums zu verlassen und noch am gleichen Tag in der Stadt zu Mittag zu essen.
Wir entschieden uns für Fraticelli’s, ein italienisches Restaurant in der Haupteinkaufsstraße der Stadt. Das Restaurant war recht klein und immer gut besucht. Alberto Fraticelli, ein gut aussehender Mann Anfang vierzig, der einiges auf seine Küche und noch mehr auf sich selbst hielt, pflegte einen modischen, informellen Stil, der im Grunde eher Boston oder Providence als South Port entsprach, und war bemüht, seinem Restaurant den Anstrich eines In-Lokals zu geben. Dazu passte es, dass er nur wenig Personal beschäftigte und lediglich eine begrenzte Anzahl von Speisen anbot, die er zum Teil im Gastraum persönlich zubereitete und sowohl zum Verzehr vor Ort als auch zum Mitnehmen anbot.
„Ah, Signore Ethan, Signorina Annabell! Wie schönä, Euschä beide wieder einmal hiier su sähen” begrüßte Alberto uns wie langjährige Stammgäste, obwohl wir beide ihn erst zwei Mal beehrt hatten. Der pomadierte Glanz seines schwarzen, welligen Haars ergänzte das künstlich-weiße Strahlen seines Lächelns. Er trug ein dazu passendes weißes Hemd mit hochgeschlagenen Ärmeln,
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