Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
auch alt, unendlich einsam und leer, sitze auf der Terrasse meines Landhauses im Regen und starre in den Park, starre einfach nur so vor mich hin, das Glas Whiskey in der Hand, das seit einigen Jahren mein ständiger Begleiter geworden ist, und spinne mir diese Geschichte zusammen, die hätte sein können – die Szenen im Krankenhaus sind möglicherweise etwas melodramatisch, aber ich will meine Zuhörer ja nun auch nicht mehr langweilen, als es insbesondere die McCandle-Dialoge unbedingt erfordern. Vielleicht findet der Mensch tatsächlich nur dann Glück, wenn er, wie McCandle es uns verkaufen möchte, im irdischen Leben Spuren und Abbilder der schenkenden Liebe sucht, die ihm zufolge ein Aspekt Gottes ist, und zu der übernatürlichen empfangenden Liebe, mit der der Mensch im Jenseits darauf reagiert. Vielleicht hilft es ihm tatsächlich nur, bereits im irdischen Leben zu versuchen, diese Beziehung zu erleben und seine Person davon prägen zu lassen.
Vielleicht bin ich kein dreister Lügner, sondern nur jemand, der die Wahrheit auch nach all den Jahren nicht ertragen kann. Vielleicht bin ich nach South Port zurückgekehrt, habe Annabell auf ihrem letzten Weg begleitet, ihr im Krankenhaus die Hand gehalten, als sie starb. Vielleicht vermisse ich sie immer noch unendlich. Vielleicht stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ein Wunder geschehen wäre – wenn die Natur nicht von allgemeinen Gesetzen regiert würde. Vielleicht klammere ich mich an das Übernatürliche, weil ich die bloße Natur nicht ertragen kann, und das, obwohl doch die greifbare Materie das ist, was meine westliche Vernunft als das einzig gewisse wahrzunehmen gelernt hat.
Vielleicht ist Annabell tatsächlich gesund geworden, wir sind zusammengeblieben, doch leider mussten wir schon sehr bald erkennen, dass wir nicht füreinander geschaffen sind. Paare können sich über die Jahre in unterschiedliche Richtungen entwickeln, besonders, wenn der eine Teil so jung ist, wie Annabell.
Vielleicht allerdings haben wir nie aufgehört, das Lied zu hören, das die ewige Stimme der Liebe für uns gesungen hat.
Vielleicht aber, nur vielleicht – diese Uneindeutigkeit prägt nun einmal unser irdisches Dasein im Allgemeinen -, ist meine Geschichte wahr.
Noch in ihrem Verlauf klammere ich mich an diese Möglichkeit, bete um sie, flehe, resigniere wieder und halte sie für einen törichten Traum, hoffe, während ich den letzten Atemzug nehme, den Krebs, der mich zerfrisst, verfluche. Allein in dem großen Krankenhauszimmer, zu schwach, um zu sprechen, geschweige denn, die Hand zu heben, umgeben von Schläuchen, Kabeln, Apparaten, drifte ich hinweg auf dem letzten Stück meiner Reise in das …
Allein?
Anhang I
Nachdem er mir die Geschichte von den blinden Männern und dem Elefanten erzählt und gedeutet hatte, antwortete Father McCandle auf meine kritische Frage nach seinem Gottesbild:
„Es gibt viele Aspekte, über die wir sprechen könnten. Über Gott, den ich als denjenigen denke, der sagt, ‚Ich bin der, der ich bin.’, das bedeutet, dass er aus sich selbst heraus, unverursacht existiert: Er ist reiner Akt, unveränderlich, ewig, immateriell, einfach, unendlich, vollkommen. Wir könnten ausführlich über diese Attribute sprechen. Wir könnten über Textkritik sprechen, über Jesus von Nazareth, den Sie als Revolutionär am Kreuz bezeichnet haben, und über seine Entwicklung im Verständnis seiner Anhänger von einem Sohn Gottes, einem Propheten, zum Gott – Gott, der Sohn – als zweiter Person der Trinität, oder über Einflüsse der griechischen Philosophen auf die christliche Theologie oder über jüdische, islamische, altnordische oder östliche Standpunkte, über Argumente für religiösen Pluralismus und vieles mehr. Höchst spannende Fragen. Aber dazu reicht, fürchte ich, die Zeit nicht aus, bis Annabell nach Hause kommt. Daher will ich mich auf Folgendes beschränken:
Nach dem Konzept, dem ich anhänge, existiert aus sich heraus eine letztlich unbeschreibliche Realität, die aller anderen Wirklichkeit vorausgeht und zugrundeliegt und die wir Gott nennen. Dieser Gott ist der Ausgangspunkt und das Ziel Ihres unsterblichen Lebens, Ethan, allen Lebens. Er hat Sie und die Welt aus Güte und Liebe geschaffen, bewahrt seine Schöpfung fortwährend in der Existenz und lenkt ihr Geschick. Er entwickelt seine Geschöpfe in diesem irdischen Leben fort: Was immer Sie in diesem irdischen Dasein erleben, Freude und Leid, die
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