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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Jahre nach unserer ersten Nacht als Mann und Frau. Der Himmel war hell und klar, Frost lag in der Luft und der Raureif bedeckte unseren Rasen, die Beete um die Terrasse und die kahlen Zweige des Magnolien- und des Trompetenbaums. Annabell hatte sich am Abend zuvor erschöpft und ein wenig fröstelnd bereits am frühen Abend in unser breites Bett mit den Blumenvorhängen gelegt, die allerdings inzwischen nicht mehr diejenigen waren, die ich vor so langer Zeit an einem heißen Julitag das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte das neueste Foto von uns, das auf ihrem Nachttisch stand, betrachtet und ich wusste, dass sie mich immer noch liebte.
      Ich hatte ihr beim Einschlafen zugesehen, wie ich es so viele Abende vorher getan hatte. Als sie einschlief, murmelte sie meinen Namen. Ich wusste in diesem Moment, dass es bald so weit sein würde.
    Gegen sechs Uhr vierunddreißig dann war sie friedvoll aus dem irdischen Leben geschieden.
    Sie folgte mir damit ganze zweiundzwanzig Jahre später nach.
    Ich selbst bin dem Krebs zum Opfer gefallen. Einer tückischen Variante, für die die Ärzte auch zu jener Zeit noch keine Heilung zur Verfügung stellen konnten.
    Es war keine angenehme Erfahrung, den rapiden Verfall des eigenen Körpers mitzuerleben. Die Palliativmedizin konnte mir den körperlichen Schmerz weitgehend nehmen können. Für meinen kleinen Engel war der Prozess indessen eine sehr schmerzvolle Erfahrung.
    Annabell durfte noch zweiundzwanzig Jahre leben – ohne meine Gegenwart unmittelbar wahrzunehmen. Das fiel ihr zu Beginn sehr schwer. Nur ganz allmählich wurde es leichter. Ganz darüber hinweggekommen ist sie nicht. Sie hat mich sehr vermisst.
    Für mich waren diese Jahre einem Augenblick gleich – hier braucht es keine Uhren. Doch das ist eine Erfahrung, die jeder selbst machen muss. Ich möchte an dieser Stelle nichts vorwegnehmen.
    Nur eines muss ich, um die Geschichte vollständig zu erzählen, noch erwähnen.
    Wenn ich damals, an einem Sommertag vor so langer Zeit, als ich Annabell zum ersten Mal sah, dachte, sie sei das schönste Mädchen auf der ganzen Welt und sie könnte niemals schöner sein, so habe ich mich getäuscht. Ich durfte in den Jahren unseres Zusammenlebens hier und da Ausschnitte ihrer wahren Schönheit sehen, die fast allen anderen Menschen verborgen geblieben ist. Aber all das waren, wie gesagt, nur Ausschnitte, Ahnungen ihrer wahren Gestalt. Wenn Ihr sie aber jetzt sehen könntet, Ihr würdet ins Schwärmen geraten.
    Doch vielleicht werdet Ihr das eines Tages.
    Wenn meine Geschichte wahr ist, werden wir uns eines fernen Tages begegnen und Ihr werdet mir berichten können, ob sie Euch gefallen hat.
    Doch ist meine Geschichte wahr? Ist sie real? Gibt es einen Unterschied zwischen Wahrheit und unserer Realität, der Welt, wie wir sie alltäglich wahrnehmen und deuten?
    Vielleicht bin ich ein dreister Lügner. Vielleicht habe ich Hawthornes Rat befolgt, bin nach meiner Flucht vom Strand nie nach South Port zurückgegangen, sondern habe Annabell im Stich gelassen. Die Episode mit dem Sturm ist nie geschehen. Vielleicht bin ich stets der Alte und Hawthorne stets treu geblieben, weil es in einer freiheitlichen Gesellschaft keine Alternative zum System Hawthorne gibt, weil selbst die von McCandle befürwortete Überwindung der Leidenschaften des Hochmuts, die Mechanismen der freien Leistungsgesellschaft nicht aufhebt, die verschiedenen Kämpfe der Menschen miteinander, die Ausbeutung der Mitmenschen und Mitgeschöpfe nicht beendet. Vielleicht kann der Mensch diese Phänomene aus genetischen Gründen von vornherein nicht überwinden – und wer möchte schon in einem totalitären System der Unfreiheit leben, in dem ein anmaßender Staat versucht, das zu regeln, was der Mensch aus freier Entscheidung nicht vermag?
    Vielleicht bin ich daher heute sehr lebendig, alt, reich und glücklich, liege als in Ehren ergrauter Partner von Westbury Hawthorne & Clarke vor Jamaica auf meiner Jacht in der Sonne und beobachte Kristin, ein junges Model - mein junges Model - wie sie aus dem Wasser steigt, in ihrem fast durchsichtigen Bikini. Die Tropfen rinnen ihre straffe, sonnengebräunte Haut hinunter. Vielleicht kann der Mensch glücklich sein, wenn er wie ein Raubtier lebt – auch Raubtiere sind friedlich, wenn sie nicht gerade rauben, und kümmern sich fürsorglich um den eigenen Nachwuchs. Vielleicht sind alle anderen Empfehlungen weltfremde Moralphilosophie oder frommer Firlefanz.
    Vielleicht bin ich aber

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