Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
– kurz: der Empfängerhorizont – beeinflussen das Verständnis und das Urteil des Empfängers. In der Vorstellungswelt des Empfängers wird die Geschichte auf individuelle Weise lebendig. Verschiedene Empfänger empfangen auf unterschiedliche Weise. Sie können sich über die Geschichte nur insoweit austauschen, als ihre Empfängerhorizonte übereinstimmen, da sie nur insoweit über denselben Gegenstand sprechen. Im Übrigen kann sich der Austausch diesem Gegenstand nur annähern.
Die Qualität einer Geschichte kann sich für den einzelnen Empfänger wiederum auf verschiedensten Ebenen zeigen:
Die unmittelbare Handlung kann den Empfänger mitnehmen, ihn neugierig machen, wie es weitergeht, kurzweilig sein. Die Geschichte kann den Empfänger emotional stimulieren. Vielleicht empfindet er die Handlung als angenehm oder unangenehm, entwickelt eine Beziehung zu den Charakteren. Vielleicht kann er Anteil nehmen an ihren Erlebnissen, mit ihnen fühlen, dadurch gleichsam selbst die Geschichte erleben.
Vielleicht gefällt es dem Empfänger aber auch, über die Geschichte, über Handlung und Charaktere nachzudenken. Vielleicht stößt er bei diesem Nachdenken auf über den engeren Wortsinn hinausgehende Bedeutungen, die in der unmittelbaren Handlung, in einzelnen Passagen oder Bildern, oder in der Typisierung von Charakteren verborgen liegen. Vielleicht erschließen sich solche Bedeutungen auch intuitiv. Vielleicht vergleicht der Empfänger die Geschichte mit anderen Geschichten oder mit dem Leben, das er in seiner Wirklichkeit vorfindet und dieser Vergleich ermöglicht es, die anderen Geschichten oder das Leben anders oder besser zu erkennen oder zu bewerten als zuvor. Vielleicht erwächst aus diesem Vergleich auch der Wunsch nach einem bestimmten Verhalten oder einer Verhaltensänderung.
Vielleicht findet der Leser oder Hörer Schönheit im Text. Sei es eine bestimmte Passage, ein bestimmtes Bild, eine Formulierung oder eine Textaussage.
Faszinierend ist für mich, dass die Geschichte, obwohl es die Geschichte meines Lebens und damit doch meine Geschichte ist, in dem Augenblick aufhört, mir zu gehören, in dem ich sie in Worten festlege. Der Empfänger mag sich fragen, wie ich eine bestimmte Aussage gemeint habe, doch kann er hier letztendlich nur mehr oder weniger geschickt mutmaßen. Wie zuvor ausgeführt, liest oder hört er eine andere Geschichte, als ich sie erzähle – unsere (Sender- und Empfänger-)Horizonte mögen ähnlich sein, aber niemals deckungsgleich. Zudem kennt er mich grundsätzlich nur so, wie ich mich in der Geschichte selbst präsentiere und er diese Selbstpräsentation versteht. Was der Empfänger liest oder hört, ist ein Text, der im Vorgang der Rezeption in einzigartiger Weise lebendig wird und jenseits eventueller Absichten bei seiner Gestaltung ganz eigenständige Aussagen trifft.
Doch nun genug derartiger Erwägungen. Ich habe versprochen, die Geschichte zu Ende zu erzählen:
Die Ereignisse in South Port waren kein Zufall. Ich glaube, das Schicksal hat mich dorthin geführt hat, damit ich ein Wunder erlebe. Und ich habe an das Wunder geglaubt, wenn ich auch heute zweifle. Nur damals habe ich geglaubt, es bestünde in Annabells Rettung. Rückschauend muss ich diese Einschätzung ergänzen und erkennen, dass die wundersame Rettung mehr mir galt, als Annabell.
Vordergründig war es durchaus Annabell. Sie war krank und ich kann nicht hinlänglich beschreiben, wie froh ich war, dass sie geheilt wurde und bei mir bleiben durfte. Ich war nicht krank wie sie, doch mein Leben in Boston war eine Krankheit, an der sie nicht litt. Der erzwungene Aufenthalt in South Port, neue Einflüsse und die Erfahrung der Liebe, von der McCandle sagt, sie sei Anteilnahme an der überfließenden Liebe, die Gott ist, standen am Beginn meiner Heilung.
Dies vorausgeschickt muss ich, wenn ich die Geschichte von Annabell und mir erzähle, noch etwas hinzufügen, ohne dass unsere Geschichte unvollständig wäre, ob es nun gefalle oder nicht, und das betrifft Annabell:
Sie starb.
Natürlich starb Annabell eines Tages.
Wir alle sterben irgendwann.
Ich möchte dem Leser nicht die Vorstellung vermitteln, mit Annabells Genesung hätte sich der Tod ein für alle Mal aus unserer Geschichte verabschiedet. Ganz im Gegenteil. Wenn McCandle recht hat, ist seine Erfahrung ein ganz wesentlicher Bestandteil des Lebens. Also gehört er auch zu dieser Geschichte.
Tatsächlich war es an einem Dezembermorgen dreiundsechzig
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