Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Entscheidungen, die Sie aus vergleichsweise freiem Willen treffen, all das dient der Ausprägung und Individualisierung Ihrer unsterblichen Person. Deren Ziel ist es, in einem Bereich der geschaffenen Wirklichkeit, der jenseits unserer irdischen Wahrnehmung und wohl auch außerhalb unseres von Zeit und Raum begrenzten Bereichs der Wirklichkeit liegt, endgültig gottförmig in dem Sinne zu werden, dass sie fähig ist, Gottes Herrlichkeit, Güte und Schönheit, die sie im irdischen Leben allenfalls hier und dort erahnen kann, in Klarheit zu schauen, darin Ihre vollkommene Glückseligkeit zu erleben und möglicherweise Ihre individuelle Anschauung der unendlichen Gottheit mit anderen zu teilen, sie zu kommunizieren.“
Nun war ich für einen Augenblick sprachlos. Das, was ich von diesem ungeheuren Wortschwall hatte aufnehmen können, ließ vermuten, dass er weitgehend noch in der Gedankenwelt der Antike und des Mittelalters lebte. Glück nach dem Tod. Leben im Jenseits. Schöpfungsgeschichte. Ich wusste nicht, was ich zuerst in Zweifel ziehen sollte. Ich entschied mich für sein Datenmaterial, seine Quellen:
„Wo haben Sie all das Zeug her? Aus der Bibel? Aus Lügengeschichten, die Ziegenhirten durch die Wüste getragen haben oder die der Dichtkunst enttäuschter Sektenmitglieder entsprungen sind, die vergeblich auf die Wiederkunft ihres gekreuzigten Führers gewartet haben?“
„Ich habe Ihnen die für Sie wohl am meisten relevanten Inhalte meines Glaubenskonzepts genannt. Glaube ist im Wesentlichen ein Gefühl, ein intuitives Fürwahrhalten der Existenz Gottes, seiner Güte und Liebe. Dieses Gefühl selbst vollzieht sich in der Regel nicht innerhalb abstrakter und systematischer Konzepte. Das traditionelle Erklärungsmodell sieht vor, dass der Herr selbst den Glauben aus Gnade wirkt, den Menschen inspiriert, unmittelbare Erkenntnis schenkt.“
„Das klingt doch sehr irrational, nach freier Fantasie.“
„Der Glaube erfasst den ganzen Menschen, seinen gesamten Intellekt, sowohl Herz als auch Verstand. Er ist wohl primär irrational aber mit der Vernunft vereinbar. Der Glaubende darf und soll die Vernunft befragen, aber sich nicht allein auf sie verlassen. Wer sich ausschließlich mit dem Kopf beschäftigt, wird leicht - wie das Sprichwort sagt - ‚ verrückt wie ein Hutmacher’ . Wer nur mit dem Herzen sieht, sieht schnell eine Najade in jedem Bach und in jedem Feuer einen Dämon. Auf dem Herzen allein kann der Mensch nicht stehen, selbst wenn er so weniger verkehrt steht, als auf seinem Kopf.
Womit kann sich nun aber der Verstand beschäftigen, was kann das Herz erfahren? Wir haben unsere eigene religiöse Erfahrung. Diese ist bei einigen mehr ausgeprägt als bei anderen. Bei den geistigen Führern dieser Welt – beispielsweise Moses, den Propheten des Alten Testaments, Jesus von Nazareth, Mohammed oder dem Buddha – dürfte sie besonders ausgeprägt gewesen sein. Wir haben aber auch Zeugnisse anderer Menschen, darunter vielfältige literarische Quellen. Sie bestehen in den biblischen Schriften, in den Gedanken der christlichen Theologen vieler Jahrhunderte, aber ebenso in den Beiträgen der Lehrer anderer Religionen und der Philosophen. Selbst wenn die neutestamentarischen Schriften keine wörtlichen Protokolle der Lehren Jesu sind, dürfen Sie diese nicht als Lügengeschichten disqualifizieren. Es sind wertvolle und illustrative Zeugnisse des Glaubens und religiöser Erfahrungen, wie es sie auch in unserer Zeit noch gibt. Nehmen Sie nur die bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen beliebten Geschichten, in denen der Sohn des Kaisers-jenseits-der-See als sprechender Löwe auftritt.“
„Also haben wir es wieder mit den Gedanken blinder Männer zu tun: Alles ist ungewiss?“
„Aber die blinden Männer erfahren den Elefanten doch. Ich glaube, dass die Gottheit sich den Menschen offenbart hat: Durch Visionen oder Auditionen, Träume, Gefühle, die auch in die Überlieferungen der Religionen eingeflossen sind. Um die Botschaften derartiger Überlieferungen freizulegen und unsere neuzeitliche Art des Denkens zu ergänzen, müssen wir versuchen, den Mythos zu deuten, ja die Überlieferungsgeschichte selbst mit all ihren Beiträgen zum Gegenstand unserer Deutung machen. Auch Geschichten, die keine wörtliche Wahrheit beanspruchen, können uns Vieles lehren. Stellen Sie beispielsweise einmal die Frage beiseite, ob der historische Jesus von Nazareth selbst den Anspruch hatte, Gott zu sein, wie es später
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