Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
hier so lange auszuharren, bis das Gör nach Hause kam, und dem das Gespräch mit mir Freude zu bereiten schien. War es nicht offensichtlich, dass diese Freude nicht auf Gegenseitigkeit beruhte?
Nach einer halben Stunde hatte ich genug davon, über mein Leben Auskunft zu geben. Ich beschloss, den Spieß umzudrehen, obgleich ich dem, was er zu sagen hatte, auch keine gesteigerte Aufmerksamkeit schenken würde.
„Sprechen wir doch einmal von Ihnen, Mr. McCandle …“
Ich ließ ‚Vater‘ oder ‚Reverend’ ganz bewusst weg. Warum sollte ich ihm die Ehre erweisen? Die Priester aller Kulturen hatten über Jahrtausende den Menschen ihre religiösen Fantastereien untergejubelt, um sich anstelle ihrer Götter verehren zu lassen.
„…Sie bringen hier also die frommen Märchen unters Volk, ja? Erzählen Sie mir doch ein wenig davon, von Ihrem Gott zum Beispiel“, ich wies auf das Silberkreuz an seinem Revers, „dem halb nackten Revolutionär am Kreuz.“
Als Kind hatte ich all den Humbug von Jesus und seinen Wundertaten gehört. Ich hatte sogar aufrichtig daran geglaubt. Was für eine Chance hat man schon als Kind, wenn anerkannte Autoritäten sich für die Wahrheit der biblischen Geschichten verbürgen? Doch mittlerweile hatte ich zum Glück die Weihen der höheren Bildung empfangen, war kein unmündiges Kind mehr. Wenn ich schon meine Zeit mit diesem Dorfpfarrer verbringen musste, der vermutlich nicht mehr zu bieten hatte, als Bibelverse zu zitieren, würde ich mir ein Vergnügen daraus machen, ihn bloßzustellen. Und was konnte mich diesem Ziel näher bringen, als ihn gleich zu Beginn der Debatte ein wenig zu reizen. Wer aufgebracht ist, macht leicht gedankliche Fehler.
McCandle indes ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Gelassen sah er mich an, schenkte mir ein großväterliches Lächeln und lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück, so als erwarte ihn ein behagliches Gespräch unter Freunden.
„Ihre Fragestellung klingt sehr kritisch mein Sohn. Die Provokation ist vielleicht nicht gerade höflich, aber sinngemäß stimme ich ganz mit Ihnen überein. Man muss die Dinge hinterfragen. Auch und gerade in der Wissenschaft, die ihrem Gegenstand nach die bedeutendste von allen ist.“
Er meinte offenbar die Theologie. Als ob man wilde Spekulationen als Wissenschaft bezeichnen konnte. ‚ Der nackten Wahrheit Schleier machen, ist kluger Theologen Amt ‘ – so formulierte es zumindest einst Lucindes Onkel.
„Ich denke“, erwiderte ich, „ich befinde mich in guter Gesellschaft, wenn ich jeden übernatürlichen Hokuspokus mit einer gewissen Skepsis betrachte. Auf der Seite der Mehrheit, würde ich sagen.“
„Ja, es ist schon kurios, wie die Mehrheiten im Laufe der Zeit wechseln. Noch vor einigen Hundert Jahren mussten sich einsame Naturwissenschaftler gegen eine dogmatisch starre Theologie zur Wehr setzen, die die Gesellschaft und ihr Denken beherrschte – nehmen Sie nur Galileo. Heute sieht sich der religiöse Mensch fast überall auf der Welt einem übermächtigen Naturalismus oder Physikalismus gegenüber, der – oftmals nicht weniger dogmatisch –, die Wirklichkeit auf die Materie, auf körperliche Stoffe und ihre Gesetze, reduziert.“
„Das liegt wohl daran, dass wir die Materie sehen und anfassen können, Hirngespinste aber nicht.“
„Sie setzen großes Vertrauen in Ihre Sinne. Was sehen Sie denn beispielsweise, wenn Sie meinen Körper betrachten?“
Einen Mann, dachte ich, der sicher schon einmal straffere Unterkinnhaut hatte? Der sich einmal einen schickeren Anzug gönnen sollte?
„Was soll ich sehen? Ich sehe Sie.“
„Sehen Sie mich, wie ich bin , oder so wie Sie mich wahrnehmen ? Was sagen Sie zum Beispiel zu der Vorstellung, dass mein Körper auf subatomarer Ebene aus winzigen Teilchen besteht, die wild umeinander schwirren? Hat meine Haut objektiv die Farbe, die in Ihrem Bewusstsein erscheint, während ihre Augen die Reflexion der elektromagnetischen Strahlung der Sonne aufnehmen? Bestehe ich nur aus Materie oder auch aus spiritueller Substanz, die Sie nicht sehen können?
Was ich damit sagen will, ist, dass die Konzepte, die in unserem Bewusstsein während unserer Sinneswahrnehmung geformt werden, zwar Abbilder der Wirklichkeit sind, die Wirklichkeit aber grundsätzlich nicht so abbilden, wie sie an sich ist, sondern so, wie wir befähigt sind, sie zu erkennen – die Möglichkeit der göttlichen Eingebung eines Abbilds lasse ich hier einmal undiskutiert. Das erkannte
Weitere Kostenlose Bücher