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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Konzepte, die möglicherweise ebenso gut, schlechter oder besser sind als meines. Hinzu kommt, daß das, was ich Ihnen begreiflich machen möchte, notwendigerweise mithilfe der menschlichen Sprache transportiert wird. Schon aus diesem Grunde ist es von vorn herein unvollkommen. In dem Bereich, in den ich vorstoßen möchte, muss Ihnen jederzeit bewusst sein, dass meine Worte Symbole für etwas sind, was letzthin unaussprechlich ist. Ich mache Ihnen gleichwohl das Angebot, mein Konzept zu erwägen und sich darauf einzulassen oder es abzulehnen.“
    „Das ist sehr freundlich von Ihnen.“
    „Es ist von überragender Wichtigkeit. Die Bewahrung und Verteidigung einer Lehre sind ein ehrenwertes Unterfangen. Aber man muss dabei die eigene Fehlbarkeit und Unzulänglichkeit akzeptieren. Die transzendente Realität findet in vielen menschlichen Gedankensystemen ihren Ausdruck. Hier vielleicht besser, dort vielleicht schlechter – doch welcher Mensch kann das beurteilen? Eines der großen Übel in der menschlichen Geschichte sind die religiösen Fundamentalisten aller Couleur, die ihre Wahrheit zu der einzig richtigen erklären und ihrem Gegenüber keine Chance geben, sich freiwillig für ihre Auffassung zu entscheiden, sie womöglich mit dem Schwert durchsetzen.“
    „Oder die Schafe, die Ihnen gedankenlos folgen.“
    Offensichtlich war er nicht der Typ Großinquisitor.
    „Ganz richtig. Selbst ein impliziter Überlegenheitsanspruch ist problematisch.“
    „Aber nun, da wir das geklärt haben: Was können Sie mir über Ihren Gott erzählen? Oder haben Sie keine Meinung?“ Ich hatte nicht die Absicht, ihn leicht davon kommen zu lassen.
    Er erzählte mir von einem weltjenseitigen Schöpfergott, der der Ausgangspunkt und das Ziel des menschlichen Lebens sei, die vollkommene Glückseligkeit der unsterblichen Person eines jeden Menschen. Er sprach vom Glauben, dass er den ganzen Menschen anspreche, Herz und Verstand, und warnte vor dem Vertrauen auf die bloße Vernunft. Wir sprachen über die Quellen des Glaubens, die Bedeutung des Mythos, über die Beweisbarkeit Gottes und die Plausibilität des Glaubens angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Nach McCandles Auffassung offenbarte sich Gott dem Menschen auf verschiedenste Weise – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Er tat es allerdings im irdischen Leben nicht zweifelsfrei, um dem Menschen eine Art freier Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Am Ende rauchte mir der Kopf. [5]
    Dieser Pfarrer machte sich wirklich Gedanken über den Unsinn, den er redete. Nebulöse Spekulationen für meinen Geschmack. Zumindest aber hatte er allem Anschein nach gute Absichten. Das musste ich anerkennen, wenn ich mir seine Ausführungen auch nicht eine Minute länger anhören mochte. Meine Aufnahmefähigkeit war überschritten.
    „Wenn Sie erlauben“, sagte ich daher, „werde ich mal nachsehen, ob wir in diesem Haus einen Tee bekommen. Sie mögen doch sicherlich eine Tasse?“
    Ein heißer Tee würde ihm hoffentlich den Schweiß aus den Poren treiben und ihn zu einem baldigen Aufbruch bewegen.
    „Vielen Dank, Ethan. Sehr gern.“ Er war ein wenig überrascht über mein freundliches Angebot. „Sie finden den Tee in dem Schrank über der Spüle, wenn ich nicht irre. Gebäck müsste dort auch stehen.“
    Na, er kannte sich ja wohl sehr gut aus.
    Ich ging in die Küche, durchsuchte die Schränke über der Spüle und wurde tatsächlich fündig. Ich warf den Wasserkocher an und füllte uns eine Portion Tee ab. Während das Wasser heiß wurde, starrte ich aus dem Fenster. Dort wuchsen mehrere riesige Hibiskusbüsche, die sich auf die diesjährige Blüte vorbereiteten.
    Ob wohl etwas dran sein mochte an McCandles Konzepten? Die Frage nach dem Ursprung aller Dinge, dem unbewegten Beweger, hatten die Naturwissenschaften bisher tatsächlich nicht beantworten können, ebenso wenig die Frage nach dem Sinn des Lebens, falls es überhaupt einen gab. Sie hatten allerdings wohl auch gar nicht den Anspruch, das zu tun. Seit ältester Zeit aber hatten die Menschen religiöse Erfahrungen gemacht, nach übernatürlichen Kräften gefragt. War das nur der Versuch, Dinge zu erklären, die sie nicht verstanden, entsprach es einer grundlegenden psychischen Schwäche des Menschen oder trug jeder Mensch tatsächlich eine Ahnung Gottes in sich, einfach weil er dessen Geschöpf war?
    Unsinn. Ich ärgerte mich, dass ich McCandles Worten mehr Beachtung schenkte, als sie

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