Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
stärker war, wirbelte ungezähmt durch mein Haar. Unter mir fiel der Boden etwa fünf Meter steil und felsig ab. Am Fuß des Abhangs lagen Geröll und riesige scharfkantige Felsbrocken, an denen sich die Wellen brachen, so dass die Gischt weiß aufschäumte. Dahinter erstreckte sich die riesige Weite der Cape Cod Bay.
Ich setzte mich auf die Bank und staunte. Es war ein beeindruckender Ort. So frei, so unbegrenzt. Die majestätische See, die sich bis zum Horizont erstreckte, der leuchtend blaue Himmel, der sich darüber spannte.
Ich befand mich auf einer kurzen Landzunge, die nicht viel breiter war, als der Garten, und in das Meer hineinragte, so dass man von der Bank aus eine vorzügliche Rundumsicht hatte. Rechts von mir setzte sich die felsige Küste gleichförmig fort. Links führte ein schmaler Pfad von dem Plateau hinunter und durch die Felsen zu einer kleinen Bucht mit einem hellen Sandstrand, der in etwa dreihundert Meter Entfernung begann.
Zugegeben, das Grundstück hatte eine ausgezeichnete Lage. Wenn es in einem der noblen Küstenorte des Staates gelegen hätte, wäre es ein kleines Vermögen wert gewesen. Man hätte den alten Kasten abreißen und einen Komplex mit Eigentumswohnungen oder ein Hotel darauf errichten und mit gutem Gewinn verkaufen können - oder eben ein bombastisches Landhaus aus Stahl, Beton und Glas, wie es mir vorschwebte. Ich fragte mich, für wie viel das Grundstück hier im Nirgendwo von South Port wohl über den Tisch gehen würde. Vielleicht konnte ich mir aufgrund meiner Vormundschaft sogar den Teil meines Erbes zurückholen, der an meine Schwester gegangen war. Es würde zwar nicht leicht werden, Rutherford auszutricksen, aber wo ein Wille war, war auch ein Weg.
Ich saß noch eine gute Viertelstunde auf der Bank in der Sonne, hielt mein Gesicht in den Wind und sog die salzige Meeresluft ein. Dann machte ich mich wieder auf den Rückweg zum Haus. Dieses Mal ging ich auf der rechten Seite des Hauses vorbei und fand dort einen Nebeneingang. Ohne große Hoffnung versuchte ich mein Glück und tatsächlich: Die Tür war unverschlossen. Das Gör war also nicht nur ach so nett, sondern offenbar auch ziemlich leichtsinnig. Ich trat ein.
Das Haus war angenehm kühl. Vermutlich wegen der Bäume. Ich fand mich in einer geräumigen Küche, die einen gemütlichen, wenn auch vorsintflutlichen Eindruck machte. Die Küchenschränke waren zur Mitte des vorigen Jahrhunderts möglicherweise strahlend weiß gewesen, zeigten nun aber einen altweißen und abgenutzten Ton. Der Herd stammte vermutlich aus derselben Zeit und wurde noch mit Gas betrieben. An den schrankfreien blassgelben Wänden hingen kleine Aquarelle und Porzellanteller mit Jahresmotiven, die teilweise bis 1920 zurückreichten. Das Haus schien schon seit Langem in Familienbesitz zu sein.
Ich verließ die Küche durch eine offen stehende Tür an der rechten Seite und gelangte in ein mit weiß lackiertem Holz vertäfeltes Esszimmer, das durch die großen, mit floral-bunten Vorhängen behangenen Erkerfenster auf den Garten hinausblickte. Im Esszimmer setzte sich die antiquierte Einrichtung fort: Ein Kristalllüster hing über dem Mahagonitisch, um den sechs mit verblassten Brokatstoffen bespannte Stühle auf einem dicken Orientteppich standen. An der rechten Seite befand sich ein offener Kamin mit fein geschnitztem klassizistischem Holzmantel. Auf dem Tisch standen zwei silberne Kerzenleuchter mit halb abgebrannten lindgrünen Kerzen. An den Wänden hingen Ölgemälde in schweren goldenen Rahmen. Eine breite Tür zur linken führte in das Wohnzimmer.
Hier setzten sich die Vertäfelung der Wände und der dunkle Holzfußboden fort, auf dem das Bohnerwachs die Gebrauchsspuren nicht überdecken konnte. An der Wand gegenüber der Esszimmertür befand sich ein weiterer Kamin mit marmornem Mantel, rechts und links daneben in die Wand eingelassene Bücherregale. Am Kamin standen große Ohrensessel mit geschwungenen Beinen. Gegenüber ein Sofa mit dicken formlosen Polstern, das mit einem chinzartigen Stoff mit Rosenblütenmuster bespannt war, zwei ebensolche Sessel und ein niedriger Tisch aus nussbaumfarbenem Holz, auf dem sich Bücher und Zeitschriften stapelten.
Alles in diesem Haus atmete Tradition. Man sah, dass hier seit langer Zeit gelebt wurde. Ich fragte mich, wie es meine Schwester in diesem Museum aushielt, in dem sie ja nun schon einige Jahre lebte, als ich einen Schlüssel im Schloss der Eingangstür hörte. Ich würde ihr diese
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