Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Objekt ist also im Erkennenden nach der Weise des Erkennenden. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, inwieweit unser Bewusstsein auf die körperlichen Sinnesorgane angewiesen ist; wir vermuten lediglich aufgrund des Anscheins einen Zusammenhang. Dieses Erkenntnisproblem bringt uns zu drei Möglichkeiten der Weltdeutung, die zunächst gleichwertig nebeneinanderstehen.“
„Und die wären?“
„Erstens: Die Wirklichkeit besteht nur aus Materie. Spirituelle Substanzen sind Illusion oder Wunschdenken. Zweitens: Die materielle Außenwelt ist eine Illusion – eine gemeinsame Illusion im Bewusstsein vieler Menschen oder - im Solipsismus - die Illusion des Einzelnen. Drittens: Es gibt eine materielle Welt, an die unser Bewusstsein sich – möglicherweise aufgrund unserer Sinneserfahrungen – unmittelbar annähern kann und eine darüber hinaus gehende, d. h. transzendente Welt, die ich hier auch spirituelle Welt nennen könnte, die wir in der Regel seltener und weniger deutlich erfahren. Die materialistische Weltsicht dominiert heutzutage.“
Der Mann war abgedrehter, als ich erwartet hatte. Aber vielleicht konnte ich ihm doch noch beikommen: „Sie reden um den heißen Brei herum. Was ist denn nun mit Ihrem Gott?“
„Wenn Sie mich nach meinem Gott fragen“, fuhr er fort, „möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es gibt sie in verschiedenen Variationen. Ursprünglich kommt stammt sie wohl aus Indien:
Stellen Sie sich blinde Männer vor, die man bittet, einen Elefanten zu beschreiben, nachdem jeder von ihnen einen jeweils anderen Teil des Elefanten begriffen hat - wörtlich und im übertragenen Sinne: Derjenige, der ein Bein befühlt, sagt, der Elefant gleiche einer Säule, derjenige, der den Schwanz befühlt, sagt, er gleiche einem Seil, der, der ein Ohr befühlt meint, er sei wie ein Handfächer und so fort. Die Männer beginnen, über das Wesen des Elefanten zu streiten. Sie alle können das beschreiben, was sie erfahren haben. Den Elefanten insgesamt erfasst keiner von Ihnen. John Godfrey Saxe kommt in seinem Gedicht ‚ The Blind Men and the Elephant ’ zu dem Schluss:
‚ So oft in theologic wars, the disputants, I ween,
Rail on in utter ignorance, of what each other mean,
And prate about an Elephant not one of them has seen! ’ [4]
Was will uns diese Geschichte sagen?“
„Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie nicht sagen, dass Gott ein Elefant sei.“
„Nein, das will ich in der Tat nicht. Wir sind die blinden Männer, Ethan … aber wir tasten. Wir nehmen die Wirklichkeit in bestimmter Weise wahr und deuten unsere Wahrnehmung, aber unsere Sinne und unser Intellekt reichen nicht aus, um die Wirklichkeit bewusst so zu erkennen, wie sie an sich ist. Dies gilt schon für den Teilbereich der Wirklichkeit, den wir zu erkennen glauben, weil wir ihn während unserer Alltags-Sinneseindrücke erfassen und sprachlich beschreiben – die Bäume und Blumen hier im Garten beispielsweise. Das gilt umso mehr für die eigentliche Wirklichkeit, die dieser Sinneswelt und auch der Welt der spirituellen Substanzen zugrunde liegt und vorausgeht. Im platonischen Höhlengleichnis ist das die Welt, zu der die Ideen gehören. In unserem Zusammenhang ist es das, was wir gemeinhin ‚Gott‘ nennen, was wir aber, um die Konnotation eines personalen Gottes zu vermeiden, ebenso gut das Nouminose oder das Transzendente oder das Originär Reale nennen könnten. Es ist an sich für uns letztendlich unbegreiflich und mit unseren geistigen Konzepten und unserer Sprache nur unzulänglich zu beschreiben. Es überschreitet unseren Intellekt. Wir erfahren lediglich hier und dort einen Teil der Wahrheit.”
Oder wir erkennen es nicht, weil es einfach nicht existiert?
“Soll das heißen, Sie wollen meiner Frage ausweichen? Trauen Sie sich die Antwort nicht zu?”
„Ganz im Gegenteil. Ich werde Ihnen gern von dem erzählen, was ich glaube und im Glauben erfahre. Nichts lieber als das. Ich will Ihnen nur vorab deutlich machen, dass das Konzept, mit dem ich meinen Glauben systematisiere, nicht der Weisheit letzter Schluss ist, sondern lediglich eine Möglichkeit der Weltdeutung, die ich für plausibel halte. Es baut auf meinem konkreten soziokulturellen Hintergrund auf. Die Gedanken und Erfahrungen anderer Menschen sind darin eingeflossen, soweit ich sie aus ihren literarischen Werken entnehmen konnte, und es gibt sicherlich viele große Gedanken und Erfahrungen, die ich gar nicht kenne. Es gibt viele andere
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