Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
verdienten. Es lag wohl an seiner aufrichtigen Überzeugung und der Weise, in der er seine Thesen selbst infrage stellte. Nicht alle Vertreter seines Standes zeichneten diese Eigenschaften aus. Viele in Vergangenheit und Gegenwart präsentierten sich als Heilsmittler und einzige Quelle der Erkenntnis, zogen äußerst weltliche Vorteile aus dieser Anmaßung und setzten ihre Lehre als Machtinstrument ein.
18. Kapitel
Bedauerlicherweise war der Tee irgendwann fertig – ein aromatisch duftender Assam von kräftig dunkler Farbe – und ich konnte meine Rückkehr zu McCandle nicht länger aufschieben. Ich hatte Tassen und ein paar Kekse gefunden und machte mich mit einem voll beladenen Tablett auf den Weg nach draußen.
Als ich mit dem Fuß behutsam die Tür aufschob, in die zum Wohnzimmer offene Eingangshalle trat und durch die großen Fenster auf die Terrasse sah, hätte ich beinahe alles fallen lassen. Konnte das tatsächlich wahr sein? Ich zweifelte fast an meinen Augen und doch jubilierte ich innerlich. Mein Herzschlag beschleunigte sich.
An dem Sessel, in dem McCandle saß, stand ein zierliches junges Mädchen mit leicht gewelltem Mahagonihaar und unterhielt sich mit dem Reverend: mein Mädchen!
Der Tag hatte mir übel mitgespielt, aber nun wurde ich überreich entschädigt. Meine Nymphe war anscheinend eine Freundin meiner Schwester. Besser konnte es gar nicht laufen. Möglicherweise würde ich sie von nun an des Öfteren sehen. Jedenfalls würde ich ihren Namen erfahren. Mehr brauchte ich nicht. Über kurz oder lang würde ich die Kleine erobern, so viel stand fest.
Doch was, wenn sie tatsächlich noch keine sechzehn Jahre alt war? Das Alter, bis zu dem unrechtmäßige sexuelle Beziehungen als Vergewaltigung galten, selbst wenn sie einvernehmlich stattfanden, lag in Massachusetts bei sechzehn Jahren. Bei einem Alter des Opfers zwischen 12 und 16 Jahren und einem Altersunterschied zum Täter von mehr als zehn Jahren, war eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, mindestens aber eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren vorgesehen, was im Falle einer Verurteilung durchaus geeignet war, unmittelbare Auswirkungen auf meine Karriere als Anwalt zu haben. Ich musste schleunigst hier weg, diesen Ort verlassen und niemals wieder kommen!
Doch die Kürze des Augenblicks genügte, mich einmal mehr in ihren Bann zu ziehen. In natura sah sie tatsächlich noch weit verlockender aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Wunderbar. Ein wahrer Leckerbissen. Einzigartig!
„Sie versammeln anscheinend nur die hübschesten Schäfchen des Ortes um sich, Reverend?“, – untypischerweise flatterte meine Stimme, als ich die Worte aussprach und auf die Terrasse trat.
Das Mädchen wandte sich zu mir um. Sie erkannte mich wieder – und errötete. Wie süß. Das machte sie noch niedlicher. In Ihrem Blick lag etwas, das ich nicht ganz deuten konnte.
McCandle lachte: „Da haben Sie Recht, Ethan, aber ein solches Glück hat ein alter Pfarrer leider nicht immer.“
„Vielleicht würden Sie mich trotzdem mit der jungen Dame bekannt machen. Wir sind uns heute schon einmal begegnet, hatten aber – bedauerlicherweise – keine Gelegenheit, es selbst zu tun.“
„Ach natürlich. Ihr beide kennt Euch ja noch gar nicht.“
Ich stutzte. Wieso hätte ich das Mädchen auch kennen sollen. Ich war gerade mal ein paar Stunden in der Stadt. Er traute mir zu viel zu, wenn er davon ausging, dass ich nach so kurzer Zeit alle hübschen Mädchen der Gegend kannte. Ich war gut, aber so gut nun auch wieder nicht.
„Ethan, ich freue mich außerordentlich, Ihnen Annabell Lillian Margaret vorzustellen, Ihre Schwester. Annabell, das ist, wie ich schon sagte, Dein Bruder Ethan.“
Ich musste kreidebleich geworden sein, denn McCandle fragte: „Was ist mit Ihnen, mein Junge. Ist Ihnen nicht wohl?“
Das konnte nicht wahr sein. Nicht ausgerechnet dieses Mädchen. Das eine Mädchen. Das süßeste und begehrenswerteste Mädchen, das ich je gesehen hatte – und ich hatte eine Menge gesehen. Das konnte nicht meine Schwester sein. Unmöglich. Das durfte einfach nicht wahr sein.
Doch so sehr ich mich auch dagegen sträubte, musste ich erkennen, dass McCandle es auch dieses Mal völlig ernst meinte.
„Doch, doch, Reverend“, antwortete ich, „mit geht es gut.“
Zumindest war das Mädchen in diesem Fall schon siebzehn. Ein Glück.
Aber meine Schwester!
Ich stellte das Tablett auf den Tisch und trat zu ihr. Wir standen uns gegenüber und ich
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