Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
schrien nach einem Schnitt und Unkraut wucherte, wo immer es die Gelegenheit gefunden hatte.
Ich parkte direkt vor der Eingangstür und hinterließ dabei eine längere Bremsspur im hellen Kies der Auffahrt. Über dem Eingang prangte eine aus schmiedeeisernen Ziffern gebildete „1897“ – der Kasten war älter, als ich vermutet hatte. Ich klingelte an der Tür und wartete.
Ich kannte meine Schwester nicht persönlich und legte auch keinen gesteigerten Wert darauf, sie kennenzulernen. Da sich diese Unannehmlichkeit aber nun einmal nicht abwenden ließ, wollte ich den freudigen Moment der ersten Begegnung so bald wie möglich hinter mich bringen. Ich klingelte nochmals.
Niemand öffnete.
Ich klingelte noch einmal, rechnete jedoch schon nicht mehr damit, dass jemand zu Hause war und suchte unter der Fußmatte, unter Blumentöpfen in der Nähe des Eingangs und an sonstigen in Frage kommenden Verstecken nach einem Hausschlüssel. Schließlich war ich nun der unfreiwillige Herr des Hauses und wenn ich es vermeiden konnte, wollte ich mir zumindest die Bekanntschaft mit Mrs. Fullton, der Nachbarin, und jegliche daraus potenziell erwachsenden langwierigen Unterredungen hinsichtlich meiner Person, meiner Eltern, meiner verantwortungsvollen Aufgabe oder meiner Schwester - und was sie doch für ein nettes Mädchen war - ersparen. Rutherford hatte mir gereicht.
Als ich an der Vordertür nicht fündig wurde, ging ich zwischen den Rosensträuchern auf der linken Seite des Hauses vorbei, um mir den hinteren Teil des Anwesens anzusehen und meine möglicherweise unausweichliche Begegnung mit Mrs. Fullton hinauszuschieben.
Auf der Rückseite des Hauses erwartete mich an Büschen und Sträuchern und in mit kleinen Buchsbaumhecken eingefassten Beeten ein Blütenmeer, dass gegen eine Terrasse brandete, die zu einem Drittel von einem von weißen Säulen gestützten Balkon überdachte war und auf der ein Tisch mit sechs Stühlen und zwei Liegen mit einem Beistelltisch standen. Die Möbel waren augenscheinlich aus Teakholz gefertigt und von der Witterung ebenso ergraut, wie die Schindeln des Hauses.
Ich stellte mich auf die Terrasse und hielt inne, um den Garten in Ruhe zu betrachten. In der Nähe der Terrasse standen einige riesige Buchsbaumkugeln, ein Magnolienbaum und ein Baum mit großflächigen Blättern, üppigen weißen Blütenkronen und vertrockneten länglichen Früchten des Vorjahres, dessen Namen ich nicht kannte, den man aber wohl Trompetenbaum nennt. Beete waren lediglich in der unmittelbaren Nähe des Hauses angelegt. Die Blumenpracht war somit konzentriert und in gewisser Weise vom Rest des Gartens abgetrennt. Die Beete in meiner Nähe verliefen in unregelmäßig geschwungenen Linien, doch weiter seitlich gab es ein etwa zehn Mal fünfzehn Meter großes symmetrisches Parterre, wie man es größer dimensioniert von den bedeutenden englischen Gärten kennt. Um ein von einem runden Wasserbecken gebildetes Zentrum vibrierend wetteiferten dort Lavendel, Ziersalbei, Stauden-Malven, Phlox, Storchschnabel und Rosen vor dem saftig grünen Hintergrund der Einfassung und hochstämmiger Buchsbaumkugeln um die herrlichsten Blüten. Doch auch hier zeigte sich am aus der Form brechenden Buchsbaum schon von Weitem , dass die ordnende Hand der Gärtnerin fehlte.
Während ich so dastand und versuchte, diese Fülle in mich aufzunehmen, konnte ich das Meer hören, von dessen schimmernder Fläche ich einen schmalen Streifen hinter der kleinen Böschung am anderen Ende des Gartens sehen konnte. Von der Terrasse aus fällt das Grundstück zunächst zu etwa einem Drittel sanft ab, verläuft dann nahezu eben und steigt am Ende des Gartens in einer niedrigen, jedoch steilen Anhöhe wieder an. Ich ging die etwa hundertzwanzig Meter über den großen Rasen auf eben diese Anhöhe zu. Auf dieser Seite des Hauses standen kaum Bäume und die Sonne brannte auf mich nieder, so dass ich trotz der angenehmen Briese mein Jackett ausziehen musste, um nicht ins Schwitzen zu kommen. Ich stieg die Böschung hoch, die von allerlei Büschen und Sträuchern bewachsen war, die offenbar als Schutzwall gegen starke Seewinde gepflanzt worden waren, und passierte diese durch eine kleine Pforte. So gelangte ich auf ein schmales Plateau, auf dem eine Holzbank stand, die so verwittert war, dass man den Eindruck hatte, dass sie hier schon eine sehr lange Zeit, möglicherweise seit der Errichtung des Hauses im vorletzten Jahrhundert, stand. Der Wind, der hier spürbar
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