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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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einfließen, das Annabell die Nichte von Richter Rutherford war und dieser an einem schnellen Fahndungserfolg sicherlich interessiert wäre. Die beiden waren daraufhin schlagartig noch freundlicher und versicherten mehrfach, man würde alles Nötige veranlassen und dem Fall Priorität einräumen. Ich konnte mir ohnehin nicht vorstellen, dass es in South Port viele gewichtigere Fälle gab, sagte aber nichts.
    Zu Hause vor dem Schlafengehen kam Annabell in mein Zimmer. Sie hatte den alten, ehemals weißen, inzwischen aber leicht ergrauten, Plüschbären im Arm, den ich auf ihrem Bett gesehen hatte. Mit dem Bären und in dem blassrosa Pyjama sah sie aus, wie ein kleines Mädchen.
    „Würdest Du Dich heute Abend ausnahmsweise zu Anthony und mir setzen und warten, bis wir eingeschlafen sind?“, bat sie und sah mich mit ihren großen Augen an.
    „Natürlich.“
    Nichts wäre mir lieber gewesen, als an ihrem Bett zu sitzen. Meinetwegen konnte sie jede Nacht fragen.
    Ich folgte ihr in ihr Zimmer, sie und Anthony kletterten in das Bett und ich setzte mich in den großen Sessel.
    Ich löschte das Licht. Nur der Mond warf seinen silbrigen Schein durch die nur halb geschlossenen Vorhänge.
    „Wo hast Du eigentlich gelernt, wie man einen Angriff mit dem Messer abwehrt? Das sah nicht aus, als ob Du das das erste Mal gemacht hättest“, fragte Annabell von ihrem Platz in den weichen Kissen.
    „Ein Freund hat’s mir beigebracht.“
    Dankbar dachte ich an Sergeant John. Ich sollte ihn auf ein Bier einladen, wenn ich wieder in Boston war. Ich musste ihm wirklich erzählen, wie gut sein Unterricht gewirkt hatte.
    „Du, Ethan?“
    „Ja?“
    „Danke …“.
    Sie tastete nach meiner Hand. Ich gab sie ihr und unsere Hände wurden eins.
    „Du bist mein Schutzengel. Wenn Du nicht da gewesen wärst …“
    Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was hätte passieren können.
    „Versuch, nicht mehr daran zu denken. Und schlaf gut.“
    Ich zögerte. Sollte ich es jetzt wirklich tun, was ich mir wünschte? Ach was sollte es: Ich fasste mir ein Herz, stand noch einmal auf und gab ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn.
    „Du auch“, seufzte sie leise.
    Nach einer ganzen Weile sagte sie schläfrig: „Ethan?“
    „Ja?“
    „Versprich mir etwas, ja?“
    „Was denn?“
    Sie zögerte. „Dass Du immer da bist.“
    Sie wollte, dass ich immer bei ihr war? Es musste der Schock sein.
    „Das verspreche ich Dir. Ich passe auf Dich auf.“ Und das meinte ich in diesem Augenblick ernst. Ich würde sie beschützen. Immer, wenn ich könnte.
    Kurz darauf schlief Annabell mit Anthony in ihrem Arm ein.
    Ich dagegen war hellwach und lauschte ihrem gleichmäßigen Atmen.
    Wie herrlich das war, so nah bei ihr zu sein, wenn sie schlief.
    Wenn ich das doch immer haben könnte.
    Ich rückte mich im Sessel zurecht, starrte durch das Zwielicht zu Annabell und hing den Gedanken nach, die in schneller Folge durch mein Bewusstsein schossen.
    Ich dachte an gestern, an den heutigen Tag. Wie viel Freude mir dieses Mädchen machte.
    Brennende Scham überkam mich bei dem Gedanken, was ich mit Ihr hatte anstellen wollen, was ein Teil von mir immer noch wollte. Was für Pläne hatte ich geschmiedet, um sie zu verführen und sie mir gefügig zu machen. Ich war keinen Deut besser als der Glatzkopf. Er hatte sie mit Gewalt küssen wollen und man konnte sich bildhaft ausmalen, was noch alles. Ich war nicht besser. Zugegeben: Meine Gewalt war subtiler. Er war ein einfältiger Klotz, der seine Körperkraft einsetzte, weil ihm Charme, Esprit und das gute Aussehen fehlten. Ich wollte Annabell mit Worten, mit Blicken und Gesten fesseln und sie mit List und Täuschung dazu bringen, freiwillig alles zu geben, was er von ihr erzwingen wollte. Und sogar ich hatte darüber nachgedacht, sie notfalls zu überwältigen. Beide hatten wir nicht danach gefragt, was dabei aus Annabell wurde, wie es ihr erging. Beide hatten wir sie zum Gegenstand gemacht, zum bloßen Objekt unserer Begierde. Nur anders, als ich es vorgehabt hatte, hatte der Glatzkopf seinem Opfer offen gezeigt, worum es ihm ging.
    Ich erkannte in dieser Nacht wie selbstsüchtig und abgöttisch ich dieses Mädchen begehrte und ich fasste einen Entschluss: Annabell war meine kleine Schwester und ich würde sie beschützen. Wie ich den Glatzkopf niedergeschlagen hatte, konnte ich auch den Teil von mir selbst niedergeschlagen, der so war, wie der Glatzkopf. Der Glatzkopf war nichts anderes als ein Teil von mir. Ich würde

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