Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
erschöpft, als ich es am vergangenen Abend gewesen war, aber ich wurde auch weit mehr dafür entschädigt. Der Ausblick über den kleinen Park, den manikürten Rasen und die getrimmten Büsche war ausreichende Belohnung. Die gemeinsame Arbeit mit Annabell hatte mich mehr befriedigt, als die erotischen Spiele mit Sandy. Lag das nur an meinem Sinn für Ästhetik? War ich noch immer gesättigt von meinem gestrigen Mahl?
Nein, das war es nicht.
Ich begehrte Annabell weiterhin. Allzu gern hätte ich sie in mein Schlafzimmer getragen. Doch da war mehr: Neben die körperliche Anziehung war längst eine weitere unbekannte Regung getreten. Sie war bereits in unserer ersten Begegnung angelegt gewesen. Nach dem Erlebnis mit dem Glatzkopf hatte ich sie erahnt. Nun, im Kontrast zu meiner Begegnung mit Sandy, wurde sie mir endgültig bewusst, trat sie mit stetig zunehmender Deutlichkeit zutage.
Ebenso sehr wie Annabells Körper wollte ich ihre Zuneigung, ihre ganze Person, wollte ich für sie da sein, für sie sorgen. Ich konnte das nur Annabells außergewöhnlicher Persönlichkeit zuschreiben und es in vollen Zügen genießen, ganz nah bei ihr unter dem schützenden Dach des Balkons zu sitzen, den Moment genießen, in dem der Himmel zum ersten Mal seit langer Zeit seine Schleusen öffnete und einen Regenschauer auf den ausgedörrten Boden herniederprasseln ließ, der so dicht war, dass man von der Terrasse aus kaum die kleine Erhebung erkennen konnte, die zu unserem Aussichtsplateau führte.
34. Kapitel
Am Dienstagvormittag führte ich längere Telefonate mit Margery, Hawthorne und einem anderen Partner. Einige Dinge im Büro duldeten keinen Aufschub. Man wurde dort allmählich ungeduldig. Hawthorne machte unmissverständlich deutlich, dass er meine Anwesenheit spätestens am Samstag erwartete. Ich konnte das kalte Glimmen in seinen Augen lebhaft vor mir sehen, während er – kontrolliert wie üblich – von der „bedauerlichen Fehlentscheidung, die Ihre Abwesenheit verursacht hat“ sprach.
Für den Nachmittag hatte ich mich nicht verabredet. Weder Sandy oder Cathy noch mir selbst wollte ich ein weiteres Rendezvous zumuten. Stattdessen wollte ich den Tag zu Hause verbringen, vielleicht am Strand spazieren gehen, vielleicht im Garten oder auf dem Plateau etwas lesen. Der Himmel war wieder zu seinem kräftigen Blau zurückgekehrt, die Temperatur war ein wenig angenehmer als in den Tagen zuvor.
Ich stand auf der Terrasse und hatte erneut Margery in der Leitung, als Annabell sich auf den Weg machen wollte.
„Ich bin dann jetzt unterwegs“, rief sie aus dem Wohnzimmer.
„Mmh.“
Ich hörte sie kaum, denn ich konzentrierte mich auf Margery, die mir einen Schriftsatz vorlas, den ein Kollege für einen von Jacks bzw. mittlerweile meiner Mandanten verfasst hatte.
„Ich habe Nudelauflauf vorbereitet. Du brauchst ihn nur noch in den Ofen zu schieben.“
„Mmh.“
„Wünsche Dir einen schönen Nachmittag.“
„Mmh.“
Moment mal!
„Einen Augenblick bitte, Margery … Annabell“, rief ich ihr nach, „wo fahrt ihr überhaupt hin und wann bist Du ungefähr wieder zurück?“
Ich lief ins Wohnzimmer. Dann in die Küche. Aber Annabell war schon weg.
Es war nicht zu ändern. Sie würde irgendwann wieder auftauchen.
Resigniert setzte ich die Gespräche mit Margery und anderen fort und schnell war die Zeit bis zum Mittag verstrichen.
Der Nudelauflauf war köstlich. Nudeln, Speckwürfel, eine Arrabiata-Sauce und das Ganze mit einer Menge Käse überbacken. Ungesund-fettig, aber lecker.
Nach dem Essen ging ich hinunter zum Strand. Er war menschenleer. Nur ein Mövenpärchen stakste durch den Sand. Als ich mich näherte, breiteten die beiden Vögel ihre Schwingen aus und flogen auf das Meer hinaus. Nun war ich alleiniger Herr über die kleine Bucht und wollte diese ungeteilte Herrschaft genießen. Ich zog die Schuhe aus und spazierte an der Wasserlinie entlang. Am Ende des Strandes angekommen stellte ich fest, dass man dort nicht weiterkam, wenn man nicht gerade eine Leiter bei sich führte oder ein Kletterkünstler war. Ein ins Meer ragender Fels versperrte den Weg und es fehlte der Pfad, den es an unserer Seite der Bucht gab. Also setzte ich mich in den Sand und starrte auf die Wellen.
Ich befand mich in einer ungewöhnlichen Situation. Ich hatte Zeit.
In Boston hatte ich niemals Zeit. Entweder war ich im Büro oder im Fitness-Studio, mit den Jungs oder mit hübschen Mädchen unterwegs.
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