Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
ich diesen Tag herbeigesehnt. Aber nun …
Es war eine ganz besondere Woche gewesen. Ich hatte das hübscheste, warmherzigste, liebenswerteste und überhaupt wundervollste Mädchen der Welt kennengelernt.
In einer Woche konnte man eine Menge über jemanden erfahren, wenn man sich Mühe gab. Und ich hatte mir Mühe gegeben. Ich hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit versucht, so viel wie möglich über Annabell in Erfahrung zu bringen. Über ihre Kindheit mit ihren Eltern, ihre Zeit bei ihrer Großmutter, ihre Schulzeit, ihre Freunde. Je mehr ich sie kennengelernt hatte, desto mehr war mir klar geworden, wie wunderbar sie war. Ihre Persönlichkeit stand ihrem Äußeren in nichts nach. Am Anfang hatte ich sie vor allem körperlich begehrt und diese Begierde hatte sich auch nicht vermindert, aber sie war, je mehr ich Annabell kennengelernt hatte, von tiefer Zuneigung ergänzt und mittlerweile vielleicht beinahe überlagert worden.
Aber ich musste der Wirklichkeit ins Auge sehen: Annabell war meine Schwester. Wir hatten keine gemeinsame Zukunft. Sie zu meiner Geliebten zu machen, wäre uns beiden gegenüber nicht fair gewesen und Annabell war dafür einfach zu schade. Das Beste für uns würde es sein, mein gewohntes Leben wieder aufzunehmen und mich in die Arbeit zu stürzen. Auf meinen Schreibtisch stapelte sich ein Wust unerledigter Akten, der mir ohnehin keine andere Wahl ließ. Margery und Harriet hatten mich während der vergangenen Tage schon verhältnismäßig selten angerufen – schließlich hatte Hawthorne mich in einen Zwangsurlaub versetzt. Aber sie hatten doch durchblicken lassen, dass meine Rückkehr mehr als überfällig war. Es würde einige Tage, wenn nicht mehr als eine Woche dauern, den Rückstand aufzuholen. Zudem war die kommende Woche mit Besprechungsterminen vollgestopft.
Der Gedanke daran ließ sich wie eine tonnenschwere Libelle auf meiner Brust nieder, mein Herz begann, angestrengt zu schlagen und Schweiß sammelte sich auf meinen Handflächen. Zum ersten Mal seit einer Woche musste ich auf meinen Vorrat an Beruhigungstabletten zurückgreifen.
Diese Pillen würden mir auch über die kommenden Tage hinweg helfen müssen. Doch wenn ich der jüngste Partner werden wollte, der jemals an der ehrenwerten Kanzlei Westbury Hawthorne & Clarke beteiligt gewesen war, musste ich Hawthorne beweisen, was in mir steckte. Ich musste mehr tun als andere. Das konnte ich und das würde ich.
Und doch: Der Gedanke, Annabell hier allein zurück zu lassen beunruhigte mich in einer Weise, wie ich es früher nicht für möglich gehalten hätte. Wir hatten von dem Glatzkopf in den vergangenen Tagen weder etwas gesehen, noch etwas gehört. Auch die Polizei hatte keine Neuigkeiten zu vermelden, obwohl Richter Rutherford eindringliche Gespräche mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Polizeichef von South Port geführt hatte. Das allein schloss aber nicht aus, dass der Glatzkopf Annabell nicht doch einmal auflauern würde, wenn das neue Schuljahr anfing. „Deine Kleine hole ich mir noch.“ Das waren seine Worte gewesen. Ich konnte mich genau daran erinnern.
‚Deine Kleine’. Die Auseinandersetzung mit dem Glatzkopf hatte Annabell zu ‚meiner Kleinen’ gemacht, hatte dafür gesorgt, dass ich Verantwortung für sie übernehmen wollte. Musste ich ihm am Ende noch dankbar sein für die Bosheit, mit der er das bewirkt hatte?
Aber es war nicht allein die Bedrohung durch den Glatzkopf, die mich grämte. Nicht bei Annabell zu sein, nicht zu wissen, was sie tat, ob es ihr gut ging, wen sie traf, was aus ihr und Jason wurde, das alles sorgte für ein Gefühl von größter Verunsicherung, gegen das ich praktisch machtlos war. Ich würde allenfalls an ein paar Abenden in der Woche bei ihr sein und in South Port übernachten. Wenn ich bis spät in der Nacht in der Kanzlei war, lohnte es sich fast nicht, noch hinauszufahren.
Diese Gedanken machten mich ganz wahnsinnig und ich war noch nicht einmal weg. Hinzu kam, dass ich Annabell erst noch beichten musste, dass ich sie am Samstag schon wieder verlassen würde. Ich hatte es bisher nicht fertiggebracht und es immer wieder hinaus geschoben.
„Ich schlage vor, Du nimmst Dir heute Abend nichts vor, Annabell“, hatte ich beim Frühstück zu ihr gesagt. „Ich würde Dich zur Feier meiner ersten Woche in South Port gern zum Essen einladen.“
„Wo gehen wir denn hin?“, hatte sie neugierig gefragt. Die Idee schien ihr zu gefallen. „Ins Diner?“
Ihr
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