Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
umdrehte, fielen seine Augen auf die Geige.
»Hallo, wer spielt denn hier Geige?« Er wartete eine Antwort nicht ab, ergriff das Instrument und zupfte leise an den Saiten.
»Gestimmt ist sie jedenfalls.« Dann legte er sie wieder aus der Hand.
»Kannst du spielen?« fragte Anne.
»Fragst du einen Kapellmeisterssohn, ob er spielen kann? Was würdest du wohl sagen, wenn jemand dich fragte, ob du rudern kannst?«
Anne mußte wieder lachen.
»Natürlich spiele ich«, fuhr Jess fort. »Aber nicht Geige, sondern Klavier. Ist das Aspedals Violine?«
»Nein, meine.«
»Was?« Jess blieb wie angenagelt stehen und starrte Anne mit offenem Munde an. Dann faßte er sich. »Ja, gewiß«, knurrte er. »Das war’s, was noch fehlte. Genau das, was noch nötig war, damit der Becher meines Erstaunens überlaufen sollte. Hör mal, Anne, wenn du mir erzählst, daß du auch Ballett tanzt, dann.«
»Nein, das tue ich nicht.«
»Hast du gerade gespielt, bevor ich kam? Weil die Geige hier so liegt?«
»Ja.«
»Was denn?«
»Och - ich - ich habe nur ’n bißchen geübt.«
»Was denn?«
»Ein Menuett von Mozart.« Jess setzte sich ans Klavier. »Das hier?« Er schlug ein paar Töne an.
Anne nickte. Ihre Wangen brannten wie Feuer. Jess setzte sich jetzt ordentlich auf dem Klavierbock zurecht.
»Los, spiel!«
»Nein, Jess, ich kann nicht.«
»Spiel, zum Kuckuck!« Seine Stimme war unduldsam, befehlend. Anne griff mit bebenden Händen nach der Violine.
Jess spielte. Sie legte die Violine an die Wange. Der erste Strich klang zittrig und unsicher. Jess drehte sich um. »Also, hör mal, Anne! Nicht nervös sein! Vergiß, daß ich hier bin. Spiel einfach los!«
Seine Stimme war jetzt ruhig und sanft, und mit einem Male fiel auch Ruhe über Anne. Sie fing von vorn an, und nun wurde der Strich ruhig. Jess begleitete sie auf dem Klavier. Und während sie so spielte, empfand Anne eine wunderbare Erlösung. Jess ließ sie spielen, wie sie wollte, er begleitete feinfühlig und biegsam - dies war etwas anderes als die Frau Pastor, die dasaß, mit der Nase in den Noten und halblaut einsund-zwei zählte. Es war wunderschön, so zu spielen. Schade nur, daß es so schnell zu Ende war. Sie ließ den Bogen sinken.
»Du kannst ja, Anne«, sagte Jess. »Das heißt, du wirst es einmal können. Bei wem hast du Stunde gehabt?«
»Bei niemand. Mein Vater hat mir die Griffe beigebracht, und dann habe ich vor drei Jahren die Noten gelernt.«
»Spiel doch mal was von dem, was du von deinem Vater gelernt hast! Etwas, was du ohne Noten gespielt hast.« Anne legte gehorsam die Violine wieder an die Wange und spielte eine norwegische Volksmelodie - eine einfache kleine Sache, das erste, was sie von ihrem Vater gelernt hatte.
Jess lauschte. Als die Melodie zu Ende war, stand er auf und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Anne«, sagte er. Dann schwieg er wieder. Schwieg und sah sie an. »Anne«, sagte er wieder. »Ein kleines Stück Norwegen. Ein kleines Stück aus norwegischem Fels. Harter Fels mit Blumen darauf.«
Anne biß sich auf die Lippen und sah zu Boden. Die Röte schoß ihr in die Wangen, und ihre Nasenflügel bebten.
»Anne, du solltest.«, begann Jess wieder. Dann brach er ab.
»Was sollte ich?« fragte Anne leise.
»Nein - darüber können wir ein andermal reden.« Er setzte sich auf einen Stuhl. »So, jetzt hast du mir eine ganze Menge von dir erzählt. Nun werde ich dir von Kopenhagen erzählen. Und von den anderen Städten, wo ich gewesen bin.«
Anne nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand, und ihre Finger ließen die Nadeln klappern, während sie zuhörte. Jess schilderte die Museen, Theater, Kinos, Sportveranstaltungen, die breiten Alleen und Parks von Kopenhagen, die Kunstwerke, die er gesehen hatte. Anne hörte mit Augen und Ohren und halbgeöffnetem Munde zu. Und dabei fügte sich in ihrem Strickzeug Reihe auf Reihe. Jetzt war es ein Vergnügen, etwas zu stricken, das Frau Aspedal Freude machen würde.
Es wurde spät. Anne rührte Zuckereier für ihn und für sich. Sie hatte ja von Frau Aspedal die Erlaubnis dafür bekommen. Als sie noch allein war, hatte sie keine Lust gehabt, sich den Abend zu versüßen. Aber jetzt, wo Jess da war, sah die Sache anders aus.
Schließlich mußte er sich doch verabschieden. Sie schloß die Tür hinter ihm, legte die Sicherheitskette wieder über und ging ins Zimmer zurück. Dort blieb sie stehen und strich mit der Hand über die Violine. Behutsam legte sie sie wieder in den Kasten
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