Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
entfuhr es Anne ziemlich schroff.
Frau Aspedal biß sich auf die Lippen. Und es entstand ein peinliches Schweigen zwischen ihnen. Frau Aspedal ging hin und her und deckte den Tisch. Endlich gab sie sich einen Ruck und sagte: »Du brauchst heute abend nicht abzuwaschen, Anne. Wenn du das Essen hineingebracht hast, dann ist nichts mehr für dich zu tun.«
»Danke«, sagte Anne. Sie war erleichtert. Aber ein kleines, ärgerliches Gefühl blieb in ihr zurück. Daß sie gezwungen sein sollte, ,danke’ zu sagen, weil ihr die allernötigste Zeit für Schulaufgaben zur Verfügung gestellt wurde, das war doch ein bißchen hart.
Sie wußte nicht, ob Frau Aspedal ihrem Manne gegenüber etwas von diesem Vorfall erwähnt hatte. Vielleicht war es reiner Zufall, daß Direktor Aspedal am nächsten Tag Anne aufmerksam betrachtete: »Ich finde, du bist ein wenig blaßschnäbelig, Anne. Arbeitest du zu viel? Schläfst du genug?«
»Gewiß doch. Ich schlafe genug.«
»Wann bist du gestern zu Bett gegangen?«
»Och - gestern wurde es ein bißchen spät.«
»Du mußt uns Bescheid sagen, wenn du zuviel zu tun hast. Wir werden es dann so einrichten, daß du deine Schulaufgaben in Ruhe machen kannst.«
»Vielen Dank«, erwiderte Anne. Mehr wurde darüber nicht gesagt. Aber Anne merkte genau, daß Frau Aspedal von jetzt ab versuchte, Rücksicht auf die Tatsache zu nehmen, daß Anne nicht nur Hausgehilfin, sondern auch Unterprimanerin war. Sie verlangte nicht annähernd soviel von ihr wie bisher. Anne kam einige Abende zur rechten Zeit ins Bett, und das hatte sie auch bitter nötig. In den letzten Wochen war sie tatsächlich so müde gewesen, daß sie nicht mehr die Kraft gehabt hatte, noch ein Buch anzurühren oder gar in den Gymnasiastenbund zu gehen.
Aber es half ihr schon, ein paar Nächte auszuschlafen. Sie fühlte sich wieder obenauf. Sie erkannte freilich auch: Diese beiden Jahre konnte sie nur dann durchhalten, wenn sie auf alles verzichtete, was Zerstreuung hieß. Es würden zwei Jahre voll konzentrierter Arbeit werden, zwei Jahre voller Entbehrungen, zwei Jahre voll Mühsal und Plage - ein hartes Programm! Doch es lohnte sich. Wenn sie erst das Abitur in der Tasche hatte, dann würde sie sich freuen, daß sie durchgehalten hatte.
Jess hatte recht, wenn er Anne mit einem harten Fels verglich. Ja, Anne war stark. Und was sie wollte, führte sie auch durch.
Ein wenig bedauerte sie es, daß Jess so von seinen Angelegenheiten in Anspruch genommen war und sich schwer in ihre Lage hineinversetzen konnte. In seinem Elternhaus verkehrten so viele Menschen, junge und alte, meistens Künstler; dort war immer Leben und Abwechslung. Und in der Schule war Jess beliebt. Er wurde in Schülerausschüsse gewählt, er bekam alle möglichen Ämter, er machte im Gymnasiastenbund Musik, ja er sang da sogar kleine dänische Lieder, zu denen er sich selbst begleitete. Von Annes Schwierigkeiten ahnte er so gut wie nichts. Ab und zu schaute er Anne gedankenverloren an. Es war etwas Abweisendes über sie gekommen, beinahe etwas Gepeinigtes. Schade, dachte er. Ein merkwürdiger Mensch, diese Anne.
Jess konnte ja nicht wissen, daß es außer der ständigen Müdigkeit auch noch nagende Geldsorgen waren, die Anne verstummen ließen und sie dazu trieben, sich ganz in sich selbst zurückzuziehen. Denn er selbst hatte nie solche Sorgen gekannt.
Ende November hatte Anne eines Tages für Frau Aspedal Einkäufe zu machen. Sie kam an einem Geschäft mit Strickereien vorbei und blieb in einem plötzlichen Einfall stehen. Jacken, Pullover und Fausthandschuhe waren dort ausgelegt, in Mustern gestrickt und mit Preisen versehen.
Und was für Preise!
Anne kniff die Augen zusammen. Das war doch wohl nicht möglich? Einhundertzwanzig Kronen für eine Drontheimer Herrenjacke! Dreizehn Kronen für ein Paar Fausthandschuhe in einem Muster, das zu stricken ein Kinderspiel war!
Sie dachte angestrengt nach, machte ihre Besorgungen, ging nach Hause und dachte weiter nach. Dann faßte sie einen schnellen Entschluß. Sie packte ihre eigenen Fingerhandschuhe ein, eine Jacke, die gerade fertig geworden war, und beide Paar Kinderfausthandschuhe, die sie für Per und Hein gearbeitet hatte. Und dann ging sie wieder in das Strickwarengeschäft. Schweigend packte Sie die Jacke aus. Sie hatte sie für sich selber gemacht, aber noch nicht in Gebrauch genommen.
Die Verkäuferin sah sich die Sachen an. Dann holte sie die Ladeninhaberin, eine ältere Dame. »Das haben Sie selber
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