Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
Engagement Kopenhagen bekommen. Brief unterwegs. Gruß Vater.“
Zwei weitere aufregende Tage. Dann kam der Brief.
An diesem Abend saßen Jess und Anne verzagt auf einer Bank im Park. Anne lag das Herz zentnerschwer in der Brust.
Die dänischen Zeitungen hatten von dem Brande berichtet. Und Onkel Herluf war daraufhin umgehend ein Engagement angeboten worden als erster Konzertmeister in einem Kopenhagener Orchester.
Für Jess’ Zukunft war es gut, daß er nach Kopenhagen kam. Dort konnte er sich von seinem lieben Professor, bei dem er früher schon Unterricht gehabt hatte, ausbilden lassen. Dort hatte er größere und bessere Möglichkeiten.
Anne versuchte sich selber einzureden, daß sie um Jess’ willen froh sein müßte. Sie mußte froh sein, daß Onkel Herluf nicht arbeitslos wurde. Sie mußte froh sein, daß die kostbare Geige nicht mit in Rauch aufgegangen war.
Und dennoch. Sie vermochte die Tränen fast nicht zurückzuhalten. Das Herz war ihr schwer wie Blei.
Fremdes Leid
„Weihnachten kommst du zu uns, Anne!“
Das war das letzte, was Anne hörte, als der Zug sich in Bewegung setzte. Eva und Jess riefen es wie aus einem Munde.
Anne meinte, daß ihr noch nie ein Weg so schwer gefallen sei wie der, den sie jetzt machte: Vom Bahnhof nach Haus, nach Haus in ihr Stübchen bei Oberlehrer Hagensens. Nach Haus zu einem mühseligen Alltag und schweren Pflichten, nach Haus in die fürchterliche Einsamkeit.
Sie schluckte die Tränen hinunter. Sie biß sich in die Lippen, während sie durch die vertrauten Straßen schritt.
Die letzte Zeit auf Westenbergen war schwer gewesen. Jess wurde von seinem Vertrag gelöst und brach eine Woche vor der abgemachten Zeit auf. Onkel Herluf hatte sofort nach Kopenhagen übersiedeln müssen. Jess wollte die Mutter nicht mit dem ganzen Umzug allein sitzen lassen.
Als Anne in die Stadt kam, fand sie alles im Aufbruch. Daells gemütliche Wohnung stand voll von Umzugskisten und Koffern, alles, was sie traulich und behaglich gemacht hatte, war weggeräumt.
Onkel Herluf war ein Tausendkünstler. Er hatte es zuwege gebracht, eine Wohnung in Kopenhagen aufzutreiben - allerdings entsetzlich teuer, seufzte Eva. Aber daß er es überhaupt fertig gebracht hatte, war schon ein Wunder. Denn die Wohnungsnot in Kopenhagen war fast ebenso groß wie in Norwegens Städten.
„Wir schicken dir Pakete“, tröstete Eva. „Mit eingewecktem Apfelspeck“, fügte Jess hinzu. Ja, Jess zog sie auf und machte Witze. Das war seine Art, über den Trennungsschmerz hinwegzukommen.
Denn ein Schmerz war es für sie beide. Am schlimmsten jedoch für Anne. Für Jess gab es so vieles, worauf er sich freuen konnte. Er durfte sich mit Leib und Seele in die Arbeit stürzen, die er liebte. Er hatte einen Halt an seinen Eltern, er konnte mit ihnen reden, sich bei ihnen Rat holen, alle Interessen mit ihnen teilen.
Anne aber hatte nur ihr winziges Mädchenstübchen, ihr Kästchen mit den zusammengesparten Trinkgeldern und ihre schwere Verantwortung.
Jess und die Seinen hatten sie in den beiden Jahren ihres Stadtlebens voll und ganz erfüllt. Sie hatte kein Bedürfnis danach gehabt, andere Freundschaften zu schließen. Darum war sie jetzt so furchtbar allein. „Weihnachten kommst du zu uns, Anne!“ Diese Worte bedeuteten einen Trost für sie. Sie wiederholte sie sich immer wieder. Aber trotzdem konnte sie sich nicht so voll und ganz darüber freuen. Wer konnte denn wissen? Die Reise war teuer, und sie wollte kein Reisegeld von Onkel Herluf annehmen, selbst wenn er es ihr aufdrängte. Sie wußte nur zu gut, Onkel Herluf war kein Krösus. Der Umzug - eine kostspielige Wohnung - und dazu Jess’ furchtbar teure Unterrichtsstunden! Nein, auch Onkel Herluf mußte jeden Öre umdrehen.
Aber vielleicht - vielleicht ließ es sich ja trotzdem machen.
Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben.
Anne hob den Kopf. Morgen sollte sie in der Handelsschule anfangen. Morgen sollte sie anfangen, für ihre und Jess’ künftige Sicherheit zu arbeiten.
Und in dem Bewußtsein dieser ihrer Verantwortung ging sie ins Haus und die Treppen hinauf in ihr kleines enges Zimmer.
Dies Zimmer - ja, es war dennoch ein Lichtblick in ihrem Dasein. Frau Hagensen war wirklich nett gewesen, hatte sie herzlich willkommen geheißen - und das Stübchen war frisch hergerichtet worden. Man hatte es im Laufe des Sommers als Fremdenzimmer benutzt. Da war es Hagensens wohl klar geworden, daß es etwas zu spartanisch eingerichtet war. Jetzt hatten sie
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