Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
es neu tapezieren lassen und neue Möbel hineingestellt. Statt der altmodischen Kommode stand da ein kleiner Sekretär mit einer herunterklappbaren Schreibplatte. Das Bett war herausgenommen worden und statt dessen ein praktisches Wandbett hingekommen, das tagsüber so gut wie keinen Platz wegnahm. Draußen auf den Flur hatte man einen Kleiderschrank gestellt, wo Anne ihre Sachen aufhängen konnte. In der Zimmerecke, in der bisher die Kleider hinter einem Vorhang untergebracht waren, stand jetzt ein behaglicher Sessel. Der war das beste von allem. Einen guten Sessel hatte Anne heftig entbehrt, namentlich, wenn sie stundenlang zu stricken hatte.
Von Jess hatte sie ein höchst sonderbares Geschenk bekommen -ein altes Notengestell. Wenn sie das vor dem Sessel aufbaute und das aufgeschlagene Buch darauf stellte, dann konnte sie ganz bequem gleichzeitig lesen und stricken.
So begann Anne ihren Alltag. Um sechs Uhr aufstehen und Fußböden wischen und das Geschirr vom Tage vorher aufwaschen. Kaffee trinken, das Schulbrot zurechtmachen, dann fort in die Schule.
Ein paar Jungens aus der Oberprima traf sie in der Höheren Han-delsschule wieder und auch eines der Mädchen - die fröhliche kleine Britt mit den guten Sprachkenntnissen, den hübschen Kleidern und dem reichen Vater.
Sie war kaum eine Woche in die Handelsschule gegangen, da wußte sie: das Gymnasium war gegen diese Schule hier ein Kinderspiel gewesen!
Sie verlor viel Schweiß über Warenkunde, französischen Geschäftsbriefen, Buchführung, und sie sah voll Schrecken, wie viele Stunden die Aufgaben täglich beanspruchten. Wie sollte sie noch Zeit erübrigen, nebenher Geld zu verdienen?
Die Freistelle in der Schule war ihr bewilligt worden; das war natürlich eine wunderbare Hilfe. Wenn aber ihr Trinkgeldkapital verbraucht war, wovon sollte sie dann leben? Sie mußte Geld verdienen!
Sie war in der Modellstrickerei gewesen und hatte einige Aufträge bekommen. Die Stricknadeln klirrten nun unverdrossen in Hagensens Mädchenzimmer, und vor Anne lagen auf dem alten Notenständer die französische Grammatik und die englische Geschäftskorrespondenz; Anne machte die Augen zu und hörte sich selber die wunderlichsten Vokabeln ab: Im Gymnasium hatte ihr kein Mensch gesagt, was Dörrfleisch, Klippfisch, Papierballen, Holzladung, Faktura, Reklamation und Zahlungsbedingungen auf Deutsch, Französisch und Englisch hießen!
Britt stöhnte auch nicht schlecht in der Schule: „Uff Anne, kommst du damit zurecht? Ich hab ganz und gar den Mut verloren. Zu dumm auch, daß ich nicht lieber in die Schweiz gegangen bin. Vati hatte es mir freigestellt, ich sollte dort in Pension kommen.“
Anne wandte Britt gegenüber alle ihre Überredungskunst an. Erstens meinte sie, man sollte durchführen, was man sich vorgenommen hatte, und zweitens fand sie es nett, daß Britt in ihrer Klasse war. Britt war gewissermaßen ein Halt für sie, und Anne bedurfte eines Halts.
Sie verstanden sich gut, die beiden jungen Mädchen, so ungleich sie auch waren.
Von Jess kamen Briefe, Briefe voller Freude, voller Berichte über Arbeit, Unterrichtsstunden, Konzertpläne.
„Ich hatte geglaubt, ich könnte ein bißchen Klavierspielen“, schrieb Jess. „Jetzt, nachdem ich wieder bei meinem Professor angefangen habe, komme ich mir vor wie ein kleines Kind, das eben mit Mühe und Not ,Summ summ summ, Bienchen summ herum’ spielen gelernt hat. Aber trotz- und alledem scheint es, als glaubte der Professor, ich hätte Aussichten. Du weißt, Mutter hat es sich in den Kopf gesetzt, daß ich mein erstes Konzert geben soll, wenn ich einundzwanzig werde. Der Professor hat nicht widersprochen. Aber er peitscht mich vorwärts wie ein Sklaventreiber! Heute habe ich mir übrigens eine Stunde frei genommen, damit ich ein Paket für Dich auf die Post bringen kann. Wenn ein junger Mann seiner Liebsten ein Paket schickt, so müßte es eigentlich Juwelen und Orchideen enthalten, aber meine Vernunft sagt mir, Du hast dänische Wurst und dänischen Käse unbedingt nötiger. Die Büchse mit Ananas ist ein unvernünftiges Extrageschenk von Muttchen.“
Jess’ Briefe waren die Lichtblicke in Annes Dasein. Und diese Lichtblicke brauchte sie dringend.
Denn das Alleinsein war quälend. Daß man keine wirklichen Freunde hatte, daß man kein behagliches Haus kannte, in dem man verkehrte.
Sie wünschte manchmal, Britt möchte sie zu sich nach Haus einladen. Aber davon war nie die Rede. Anne wunderte sich ein bißchen. Denn
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