Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
hatte.
Endlich bekam Anne Antwort.
Sie kam mit der Mittagspost, gleich nach dem Lunch. Gottlob, um diese Zeit konnte Anne sich etwas freimachen.
Sie schloß sich in ihr Zimmer ein und öffnete mit zitternden Fingern den Brief.
„Kleines Annemädchen - liebe kleine Schwiegertochter!
Ich danke Dir herzlich für Deinen lieben Brief. Er hat einen sehr wunden Punkt bei mir berührt. Glaub nicht, daß ich nicht selbst gesehen hätte, wie es Jess danach verlangt, sich ganz der Musik widmen zu dürfen und von der verdammten (Verzeihung!) Höheren Handelsschule loszukommen. Selbstverständlich verstehe ich ihn, o, wie gut verstehe ich ihn! Auf der andern Seite, Kindchen: Ich habe in meinem Umgangskreis so viele Künstlertragödien erlebt. Ich habe gesehen, wie optimistische junge Menschen die Musik als Beruf ergriffen haben, die Schauspielkunst, der Himmel mag wissen, was sonst noch alles - und gescheitert sind. Dann haben sie dagesessen, ohne die Möglichkeit, sich einen anständigen Lebensunterhalt zu verschaffen.
Aber, Anne, ich sehe ein, daß auch Du ein Wort mitzureden hast. Du hast recht, Jess’ Zukunft ist auch die Deine. Und Deine Worte wiegen schwer. Ich habe nun eingehend mit Eva gesprochen - die selbstredend Deinen Brief gelesen hat, das war doch auch wohl so gedacht? - und wir sind uns einig geworden, einen Kompromiß vorzuschlagen:
Jess soll von dieser verhaßten Schule erlöst werden - zunächst einmal! Er darf gern weiter komponieren, aber der Junge soll wahrlich auch arbeiten! Er soll Finger-Übungen und Etüden spielen, und wenn ich mit dem Rohrstock neben dem Flügel stehen soll! Nun, im Ernst, wir meinen: Dies Jahr soll ihm gewährt sein, damit er sich ganz und ungestört der Musik hingeben kann. Er soll sich in Ruhe auf sein erstes Konzert vorbereiten. Und er darf es auch geben. Wenn er im Laufe dieses Jahres beweist, daß er als Musiker etwas leistet, dann pfeifen wir auf die Schule. Wenn Jess aber die Sache nur halb macht, wenn er uns nicht davon überzeugt, daß die Musik ohne jeden Zweifel seine Zukunft ist, dann geht’s marsch wieder auf die Schulbank zurück!
Bist Du damit zufrieden, Annemädchen?
Viel Vergnügen weiter mit Deinen Kurgästen. Du bist ein tüchtiges Mädel, kleine Anne. Wir sind stolz auf Dich!
Ich schreibe mit gleicher Post an den talentierten jungen Pianisten des Hotels. Du brauchst also keinen Gruß auszurichten.
Die innigsten Grüße von Eva und Deinem alten Onkel Herluf.“
Die Trennung droht
„Nein, hört doch bloß - hört bloß!“ sagte Frau Gregersen, die Gattin des bekannten Schiffsreeders. Sie hatte eben ihre Bridgekarten aufgenommen, vergaß aber ganz, sie sich anzusehen. Sie wandte den Kopf und lauschte.
Die übrigen Gäste taten desgleichen. Das Geplauder vor dem Kamin verstummte. Der Kaffee in den Tassen wurde kalt. Die Schläge vom Tischtennis im Gartensaal hörten auf. Zwei Schachspieler in der Fensternische vergaßen zu setzen.
„Nanu, was ist denn das?“ flüsterte ein älterer Herr und ließ die Zeitung sinken.
Alles hörte zu.
Denn vom Flügel strömten Töne herüber - nicht das übliche „Sonne auf dem Meer“ und „Kentucky Lullaby“ und wie die Stücke alle hießen. Nein, dies waren Konzertnummern, es war - ja, was war es doch gleich. Ach ja, Chopins Revolutionsetude! Ein Intermezzo von Brahms folgte. Dann kam wieder Chopin, und dann, als eine jubelnde, schillernde Fanfare, eine Konzertetüde von Liszt. „Ich ahnte gar nicht, daß der junge Mann so spielen kann“, sagte Frau Gregersen. Die Karten lagen vergessen vor ihr auf dem Tisch. Sie klatschte, daß ihre Armringe klirrten.
Ja, alles klatschte. Jess mußte aufstehen und für den Beifall danken. Jung und ein wenig verlegen, glücklich lächelnd stand er da; die verschwitzte dunkle Haartolle fiel ihm in die Stirn.
An der Tür lehnte ein junges, blondhaariges Servierfräulein. Sie stand ganz still, und ihre Augen glänzten. Sie mußte eine große Musikfreundin sein, dies junge Mädchen.
Jess mußte heute spielen. Er mußte etwas Anständiges spielen, mußte seiner Freude Luft machen! Sich selbst und Anne und allen Menschen zeigen, was er konnte!
Jess war so überglücklich, daß er nicht wußte, auf welchem Bein er stehen sollte.
Als er den Brief vom Vater erhalten hatte, war er weggestürzt, um Anne zu suchen. Die Worte hatten sich überschlagen, als er die wunderbare Neuigkeit berichtete: Vater und Mutter waren zu dem Entschluß gekommen, daß er spielen sollte - nichts als
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