Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
spielen! Er durfte auf die ganze Höhere Handelsschule pfeifen!
Er hatte Anne nur eben ein paar kurze Minuten gesehen. Dann rief die Pflicht beide wieder. Aber heute abend wollten sie einen Spaziergang machen, und Jess sollte lang und breit von seinem Glück und seinen Zukunftsträumen sprechen. Anne wollte zuhören und seine grenzenlose Freude mit ihm teilen.
Aber zunächst einmal mußte er spielen. Er mußte! Was kümmerte es ihn, was die Gäste dachten; was kümmerte es ihn, daß er für leichte Unterhaltungsmusik angestellt war, als Begleitung für Plauderstunden und Bridge und Zeitunglesen! Heute mußte Jess ein Konzert geben.
Der Geiger freute sich, daß er inzwischen eine Ruhepause hatte. Jess’ Konzert fand viel Anklang. So viel Anklang, daß der Direktor auf den Gedanken kam, ob er nicht einmal die Woche ein solches Konzert aufs Programm setzen sollte. Man könnte ja dem jungen Daell ein kleines Extra-Honorar dafür zahlen. Man könnte vielleicht Aushänge anbringen, vielleicht sogar unten an der Schiffsbrücke, daß im Hotel jeden Mittwoch ein Konzert stattfände. Das Hirn des Direktors arbeitete schon an den Einzelheiten des Unternehmens.
Es wurde spät, bis die Gäste aufbrachen. Einer nach dem andern trat auf Jess zu. Alle wollten ihm einen Dank und ein freundliches Wort sagen. Die jungen Mädchen ließen sich Zeit. Sie folgten dem jungen Pianisten mit sehr interessierten Augen. Eine von ihnen ließ durchblicken, daß man vielleicht einen Abendspaziergang machen könnte. Sie war ein erfahrenes kleines Ding und wußte, wie sie so von ungefähr eine harmlose kleine Bemerkung fallen lassen sollte, um ans Ziel zu kommen.
Wer hatte je solches Konzert in Westenbergen gehört!
Aber in diesem Falle hatte sie kein Glück.
Denn der talentvolle und entzückende junge Pianist, um den sie sich wirklich bemüht hatte, er antwortete freundlich, aber ablehnend. Er wies die schicke junge Direktorstochter zurück, ging in den Park hinaus und küßte eines der Hausmädchen!
„Bitte, wollen Sie mir vielleicht mein Zimmer zeigen! Fräulein, kann ich einen Tee komplett heraufbekommen? Vielen Dank, bitte, vielen Dank für die Hilfe! Fräulein, seien Sie doch so gut und machen Sie das Zimmer so bald wie möglich in Ordnung! Würden Sie bitte ein Bad für mich zurechtmachen, Fräulein! Bitte, ein kleines Helles hier, danke! Bitte, ich möchte gern mehr Knäckebrot haben. Fräulein, bitte die Weinkarte! Fräulein, hier fehlt Sauce, lassen Sie doch bitte nachfüllen. Ziehen Sie mir mal zwei Selters auf, mein Täubchen.“
Als Anne das erstemal „mein Täubchen“ genannt wurde, erstarrte sie. Jetzt hatte sie sich daran gewöhnt. Es kamen und gingen so viele Arten von Gästen, daß auch immer welche darunter waren, für die ein junges Zimmermädchen „mein Täubchen“ oder „Kleine“ war. Anne ließ es zum einen Ohr herein - und zum andern wieder hinausgehen. Und die männlichen Gäste hatten immerhin so viel Erfahrung, daß sie sehr bald herausfühlten: mit diesem Zimmermädchen war ein Flirt nicht möglich. Die Gäste, die sie „mein Täubchen“ nannten, waren im Grunde oft gutmütige Mannsleute, denen man sonst wirklich nichts nachsagen konnte. In der Regel waren sie freigebig mit Trinkgeldern.
Anne kam sich wie ein richtiger Geizhals vor, wenn sie abends den Ertrag des Tages sorgfältig durchzählte und ihre Münzen in den Kasten legte.
Bei ihrer vielseitigen Arbeit kamen natürlich auch Dinge vor, die nicht gerade angenehm waren. Es gab unduldsame Gäste, die viel Bedienung forderten. Es gab nörgelige Gäste, die Anne auszankten für Dinge, an denen sie wahrlich keine Schuld trug - wie zum Beispiel die Preise, die Menüs, die Ausstattung der Zimmer und was es sonst noch geben mochte. Es gab Gäste, die so lange in ihren Zimmern blieben, daß Anne vor dem Lunch nicht mehr Ordnung machen konnte. Es gab unsaubere Gäste, die das gebrauchte Waschwasser im Waschbecken stehen ließen, die überall Zigarettenasche hinstreuten, die Apfelsinenschalen und Kirschkerne auf die polierten Tischplatten legten. Und es gab unordentliche Gäste, die die Schuhe mitten im Zimmer stehen ließen und die Kleider über Betten und Stühlen und Tischen ausstreuten, so daß Anne hinter ihnen herräumen mußte, als wären sie kleine Kinder.
Aber alles wurde zur Gewohnheit. Und die Summe im Kästchen schwoll an.
Annes Gedanken beschäftigten sich mit dem Jahr, das ihrer harrte. Noch ein Jahr in dem engen kleinen Mädchenzimmer bei
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