Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
der Natur lag. Die Schroffheit, die Erbarmungslosigkeit, die harten Bedingungen. Man mußte hoch aufs Fjäll hinaufsteigen und an Seilen hängen und klettern, um ein kleines Lamm zu bergen. Man mußte auf seinem Rücken das Heu zur Scheune tragen, um das Leben des Viehs zu erhalten. Man mußte in jedem Wetter zum Fischen hinausfahren, um das eigene Leben zu erhalten.
Man mußte ein kleines Kind schlagen, um dessen Leben zu erhalten.
Jess strich Anne übers Haar.
„Kleine Anne“, sagte er leise. „Kleine große Anne. Anne vom Möwenfjord.“
Festlicher Tag
Das Motorboot aus Möwenfjord glitt durch die Junisonne Fjordein-wärts. Es war Sonntag, und in der Kirche drinnen im Dorf sollte Kindtaufe sein.
Vorn im Plankengang saß Anne allein. In der Mitte des Boots saß Magnus am Motor, und hinter ihm, auf der breiten Ducht, hatten Liv und Marthild mit dem Täufling ihren Platz. Tore stand achtern am Steuerruder. Dort saßen auch Mutter Kristina und Jess.
Kristinas blendend weißes Kopftuch leuchtete in der Sonne. Sie hatte heute Tracht angelegt, die Mutter Kristina. Es kam selten genug vor, daß sie sie einmal aus der Tiefe ihrer Truhe hervorholte.
Sie hatte die breiten, kräftigen Hände im Schoß um das Choralbuch gefaltet. Heute war es für Mutter Kristina ein hoher Festtag;. Es war der erste Sohnessohn, und sie sollte ihn zum Altar tragen.
Anne hatte auch die Volkstracht angelegt. Es war Marthilds alte, denn die Schwester nähte sich eine neue. Marthild wollte im August heiraten, und für die Brautkrone wollte sie eine neue Tracht haben.
Annes schneeweißes, gesticktes Hemd wurde von Großmutters schwerer alter Filigranschließe zusammengehalten. Mutter hatte sie ihr heute morgen eigenhändig angesteckt. „Großmutter hatte bestimmt, du solltest sie an deinem Hochzeitstag haben“, sagte Mutter Kristina dabei. „Aber wenn Großmutter gewußt hätte, daß du uns so viel Freude machst und mit der Studentenmütze nach Hause kommst, dann wäre es ihr sicher recht, daß du die Schließe jetzt schon bekommst.“
Annes weiße Hemdärmel schimmerten im Sonnenlicht. Immer, wenn sie sich bewegte, klimperte es leicht und zart in dem reichen Gehänge der Schließe. Sie mußte immer einmal schnell den Kopf senken und einen Blick darauf werfen. Die Schließe war unglaublich schön. Es erfüllte sie mit Andacht, daß sie sie tragen durfte, und daß die Großmutter sie ihr vermacht hatte.
Dann hob sie den Kopf wieder und begegnete Jess’ Blick. Sie lächelten einander zu. In dem Lächeln lag alles, was die beiden dachten.
Anne konnte sich nicht entsinnen, jemals so glücklich gewesen zu sein.
Ihre Augen hingen an der Mutter und an Jess. Ja, das war das beste von allem, was sie je erlebt hatte: daß diese beiden Menschen, die sie von allen in der Welt am meisten liebte, diese beiden Menschen, die in zwei gänzlich verschiedenen Welten beheimatet waren, deren Leben so ganz verschieden verlaufen war, daß sie in gegenseitiger Liebe und Achtung zueinander gefunden hatten.
Ja, es war so gekommen, wie Onkel Herluf vorhergesagt hatte: Herzensbildung und Güte schlugen eine Brücke über alle Schwierigkeiten und Verschiedenheiten.
Anne hatte es in diesen Tagen gesehen, wenn Mutter Kristina dem jungen Schwiegersohn mit verwunderten Augen folgte. Er war Kavalier, der Jess, ob er mit Mutter Kristina zusammen war oder mit den berühmten Künstlern, die in seinem Elternhaus verkehrten. Jess hielt Mutter Kristina die Türen auf und ließ sie vorgehen. Jess stand auf, wenn Mutter Kristina stand. Er benutzte jeden kleinsten Anlaß, um sich ihr gefällig zu erweisen. Wenn Mutter Kristina in die Küche ging, um aufzuwaschen, schlich Jess hinterher und trocknete ab. Ihren Widerspruch beachtete er nicht. Und an der Aufwaschwanne wurde geplaudert. Anfangs bestritt Jess die Unterhaltung allein; er erzählte kleine und lustige Dinge aus der großen Welt, in der er lebte, und Mutter Kristina hörte zu. Später wurde sie selbst redseliger, und die beiden fanden sich - vor allen Dingen in der gemeinsamen Liebe zu Anne, aber auch sonst in allem Menschlichen. Sie waren beide warmherzige Menschen mit denselben elementaren Begriffen von Gut und Böse, Häßlich und Anständig, Falsch und Richtig.
O ja, Jess’ Besuch auf Möwenfjord konnte nicht besser gelungen sein. Wenn Tore und Magnus diesen Stadtmenschen auch in mancher Beziehung sonderbar fanden, so schlossen sie dennoch Freundschaft mit ihm. Alle mußten Jess gut sein, alle wurden von
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