Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
großen Teil mechanisch machen. Beim Servieren allerdings mußte sie die Augen offen halten und die Gedanken zusammennehmen. Aber wenn sie die vielen Zimmer sauber machte, die zerwühlten Betten richtete, den verstreuten Puder von den Glasplatten der Toilettentische abwischte, benutzte Wassergläser aufwusch und Spiegel und Glasborde polierte - dann waren die Gedanken anderswo.
Jess sah sie nur wenig. Nur eben auf dem Abendspaziergang und zwischendurch einmal mitten am Tage, wenn sie es heimlich einrichten konnten. Aber sie hatten beide ihre Arbeit, und Anne machte die gleiche Erfahrung wie alle Hotelangestellten: den Begriff Privatleben gab es in der Saison nicht.
Als Anne eine Woche lang überlegt und gegrübelt hatte, faßte sie einen Entschluß. Und dann setzte sie sich zu später Nachtstunde hin und schrieb einen Brief:
„Lieber Onkel Herluf!
Jess weiß nicht, daß ich an Dich schreibe, und er soll es auch nicht erfahren. Ich muß von etwas sprechen, das mich im Grunde nichts angeht. Das heißt, gewissermaßen geht es mich doch etwas an, denn es betrifft Jess und seine Zukunft - und so betrifft es auch mich.
Onkel Herluf - weißt Du noch, als Jess die Musik für Lottis Kinderkomödie geschrieben hatte, versprach er Dir, keinen Ton mehr zu komponieren, bis er sein Abitur gemacht hätte? Das Versprechen hat er gehalten. Jetzt hat er das Abitur gemacht, und jetzt arbeitet er, arbeitet Tag und Nacht und macht lauter schöne Kompositionen, eine immer schöner als die andere. Sowie er die Möglichkeit hat, das Klavier privat zu benutzen, spielt er. Er steckt voller Musik, ganz eins mit der Musik ist er. Es ist sonnenklar, daß seine ganze Zukunft auf der Musik aufgebaut ist.
Er hat Dir versprochen, das Jahr in der Handelsschule durchzumachen. Und du weißt, er hält, was er verspricht. Er würde Dich nie bitten, Du möchtest ihn von seinem Versprechen entbinden.
Aber ich bitte Dich darum, Onkel Herluf. Ich bitte Dich darum, weil ich Jess lieb habe, und weil ich weiß, er leidet unter dem Gedanken, die Schulbank drücken zu müssen statt den Klavierstuhl. Ich weiß, was Du sagen wirst: Der Junge braucht eine Ausbildung, auf die er zurückgreifen kann, wenn er sich als Künstler nicht durchsetzt. Aber, Onkel Herluf - er wird sich durchsetzen! Ich weiß es! Und noch etwas: Er muß etwas haben, worauf er sich stützen kann, das heißt, wovon er leben kann. Aber jetzt bekomme ich doch die Ausbildung. Sollte Jess es nicht schaffen, durch Konzerte oder Komponieren oder durch Dirigieren Geld genug zu verdienen, dann habe ich etwas, worauf wir zurückgreifen können! Jess und ich wollen heiraten, Jess und ich werden eins sein - und da ist es doch ganz einerlei, wer von uns diese segensreiche kaufmännische Ausbildung hat!
Lieber Onkel Herluf - sei nicht bös auf mich, daß ich dies so frei von der Leber weg geschrieben habe. Ach, wenn Du Jess’ Zimmer sehen würdest, so wie ich es jeden Morgen sehe! (Ich mache es nämlich sauber, mußt Du wissen!) Er teilt es mit dem Geiger Jörgensen. Der arme Jörgensen hat kaum Platz für sein Rasierzeug vor lauter beschriebenen Notenblättern. Und du solltest sehen, welch müden gequälten Ausdruck Jess bekommt, wenn von der Handelsschule die Rede ist!
Jess würde mich bestimmt erwürgen, wenn er wüßte, daß ich Fürbitte für ihn geleistet habe. Darum darf er es auch nicht erfahren. Noch nicht. Irgendwann, in einem geeigneten Augenblick, werde ich es ihm selber erzählen.
Grüß Eva tausendmal. Ich schreibe auch bald an sie. Aber diesmal, das wirst Du verstehen, mußte ich an Dich schreiben.
Einen herzlichen Gruß von Deiner Anne.“
Nachdem sie diesen Brief abgeschickt, hatte sie die ganze Woche Herzklopfen. O, wenn Onkel Herluf es doch verstehen wollte - wenn er doch Jess von diesem Versprechen lösen würde - wenn er doch erlauben wollte, daß Jess sich kopfüber in die Musik stürzte, wenn er ihn aus Herzenslust spielen und komponieren lassen wollte - Onkel Herluf war selbst Künstler, auch er war durch und durch von der Musik beherrscht. Aber er war auch Vater, und er war ein nüchterner und vernünftiger Mensch, der die Verantwortung für seinen Sohn fühlte.
Wer würde den Sieg davontragen? Der verständnisvolle Künstler oder der verantwortungsvolle Vater?
Anne arbeitete in dieser Zeit wie wild. Frau Legard war sehr entzückt davon, wie schnell und gut die Arbeit erledigt wurde. Sie gratulierte sich im stillen selbst, daß sie Fräulein Viken hergeholt
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