Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
Taufe gehalten werden sollte, und daß die junge blonde Tante und der neue Onkel Pate stehen sollten.
Jess wich nicht von Annes Seite. Er fragte und erkundigte sich nach allem. Er wollte über alles genau Bescheid wissen. Immer wieder staunte er: So hatte sie gelebt, seine kleine Anne! So hatte sie ihre Kindheit verbracht. Jess’ Gedanken schweiften in seine eigene Kindheit zurück. Er dachte an die breiten Straßen und die großen Parks, an klingelnde Straßenbahnen, blinkende Autos, dröhnende Flugzeuge. Ständig wechselnde Wohnungen, alle möglichen Sprachen. Hunderte und aber Hunderte verschiedener Menschen, die im Hause seines Vaters aus- und eingegangen waren. Konzertsäle, Theater. Und über dem Ganzen immer die Musik. Sein eigenes Klavierspiel, Vaters Geige - Vaters Freunde, die zum Quartettspielen kamen. Und dann Reisen, Eisenbahnabteile, Schiffe, Autos, Flugzeuge. Die Bilder zogen an seinem inneren Blick vorüber, flimmernd und in stetem Wechsel.
Anne aber hatte in all diesen Jahren still, ruhig und ungestört in diesem winzigen Winkel der Welt gelebt.
Und nun waren sie auf Annes Ausguck, in ihrer „Lesemulde“...
In den nächsten Tagen lernte Jess jedes Fleckchen Erde kennen, das für Anne Erinnerungen barg.
Sie hatte ihm die Nebengebäude gezeigt, den Bach, wo die Brüder Kreiselräder für sie aufgestellt hatten. Sie war mit ihm bis an den Steilhang herangetreten, wo sie als Kind nie hatte hingehen dürfen. Ja, sie hatte ihm den festen Haken in der Hauswand gezeigt, an dem sie als Kind immer angeseilt worden war.
„Wenn man das mit mir gemacht hätte, dann hätte ich mir wohl die Lunge aus dem Halse geschrien“, sagte Jess und starrte nachdenklich den Haken an.
„Da hätte sich kein Mensch drum geschert“, lachte Anne. „Alle Kinder auf Möwenfjord sind dort angeseilt worden. Vor vielen Jahren gab es einmal ein Unglück. Die kleine Schwester meines Großvaters stürzte hinab. Und seitdem haben sie aufgepaßt, siehst du -. In einem Jahr wird Bübchen auch schon so weit sein, daß er lernen muß, am Seil zu hängen.“
„Daß du nie herausgefunden hast, wie du das Seil aufbinden könntest?“ sagte Jess.
„Das hab ich einmal getan und nie wieder“, sagte Anne ruhig. „Ich trabte los, auf den Steilhang zu, das Seil schleifte hinter mir drein. Und wenn Magnus mich nicht gesehen und wieder eingefangen hätte, dann hättest du höchstwahrscheinlich dein Abitur ohne Anne Vikens wertvollen Beistand machen müssen.“
„Gesegnet sei der Magnus“, sagte Jess.
„Das magst du wohl sagen. Immerhin - in der ersten Stunde habe ich ihn, glaub ich, nicht gerade gesegnet. Denn ehe er mich wieder festband, hat er mir eine Tracht Prügel verabfolgt, die ich noch heute fühle!“
„Was??“ Jess schrie es fast und blieb einen Augenblick mit offenem Munde stehen, ehe er weitersprechen konnte. „Soll das heißen, daß Magnus dich geschlagen hat? Seine kleine Schwester geschlagen?“
„Ja, das kannst du mir glauben. Eben das soll es heißen. Ich weiß noch ganz genau, wie ich wieder angeseilt wurde, und wie ich dann dort an der Hauswand stand und vor Schmerzen brüllte. Ich hüpfte hin und her und rieb mir das Hinterteil. Es tat so weh, daß ich nicht still stehen konnte.“
„Das ist doch das Tollste.“ Jess suchte nach Worten. „Ein Kind schlagen - eine kleine Schwester schlagen - so was Gemeines gibt’s wohl nicht nochmal.“
Anne lächelte. Sie wandte den Kopf, denn sie hatte Schritte hinter sich gehört. Es war der älteste Bruder.
„Du kommst gerade zurecht, damit Jess dir eins an den Kopf geben kann“, lachte sie. „Weißt du noch damals, wie du mich verhauen hast, weil ich versuchte, über den Steilhang zu kullern?“
„Und ob ich es noch weiß! Es war greulich, sag ich dir. Ich hab dich damals sicher grün und blau geschlagen - “
„Das stimmt“, gab Anne zu. „Aber versuche einmal Jess begreiflich zu machen, daß du nicht anders konntest?“
„Ist das so schwer zu verstehen? Ja, ich weiß wohl, es heißt jetzt, man soll in Ruhe mit einem Kind reden und dergleichen - aber wenn ein fünfjähriges Mädel versucht, in den sicheren Tod zu rennen, dann wird das ruhige Reden wahrscheinlich keinen so tiefen Eindruck machen wie.“
„. ein blaugeschlagenes Hinterteil“, lachte Anne. „Nein, das ist sicher.“
Jess blickte vom einen zum andern. Ihm schien ein Licht aufzu-gehen. Ihm schien das Einfache, das Unkomplizierte und unerbittlich Harte klar zu werden, das hier in
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