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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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angehalten? Weißt du auch nicht, wer Gott ist?«
    »Doch: der barmherzige und allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden.«
    Marilla war erleichtert. »Dem Himmel sei Dank, du bist also doch kein Heidenkind! Wo hast du das gelernt?«
    »In der Sonntagsschule im Waisenhaus. Wir haben den ganzen Katechismus auswendig gelernt.«
    »Und warum betest du dann nicht abends vorm Einschlafen, wie sich das für ein braves kleines Mädchen gehört?«
    »Mrs Thomas hat mir gesagt, dass Gott mir mit Absicht rote Haare gegeben hat, seitdem interessiert er mich nicht mehr. Und außerdem war ich abends immer zu müde, um noch ans Beten zu denken. Von kleinen Mädchen, die auf einen Haufen Zwillinge aufpassen müssen, kann man nicht zu viel erwarten, oder?«
    Marilla beschloss, auf der Stelle mit Annes religiöser Erziehung zu beginnen. Es war keine Zeit zu verlieren.
    »Solange du unter meinem Dach lebst, musst du dein Gebet sprechen, Anne.«
    »Ja, natürlich, wenn Sie das möchten«, stimmte Anne fröhlich zu. »Ich würde alles für Sie tun. Aber Sie müssen mir wenigstens heute Abend noch vorsprechen, was ich sagen soll. Nachher im Bett werde ich mir ein wunderschönes Gebet ausdenken, das ich dann immer sprechen kann. Ich glaube, die Sache kann sogar ganz interessant werden, wenn ich es mir recht überlege.«
    »Du bist alt genug, um selbst zu beten, Anne«, sagte Marilla bestimmt. »Danke Gott für Seine Gaben und bitte Ihn in aller Bescheidenheit um die Erfüllung deiner Wünsche.«
    »Gut, ich werde mein Bestes tun«, versprach Anne, kniete sich nieder und vergrub ihr Gesicht in Marillas Schoß.
    »Allmächtiger, himmlischer Vater«, betete sie, »ich danke dir für die >Weiße-Blütentraum-Allee( und den >See der glitzernden Wasser« und >Bonny< und die >Schneekönigin<. Ich bin dir wirklich außerordentlich dankbar. Und das sind alle guten Gaben, die mir im Moment einfallen. Was meine Wünsche angeht, sind sie so zahlreich, dass es viel zu lange dauern würde, um sie alle aufzuzählen. Also will ich dich nur um das Wichtigste bitten: Lass mich auf Green Gables bleiben, und bitte, lass mich ein hübsches Mädchen werden. Mit vorzüglicher Hochachtung - Anne Shirley.«
    Nach diesem Schlusssatz stand sie wieder auf. »War das gut so?«, fragte sie eifrig. »Wenn ich mehr Zeit zum Überlegen gehabt hätte, wäre es sicherlich noch viel feierlicher und schöner geworden.«
    Die arme Marilla konnte sich nur mit der Gewissheit trösten, dass es nicht Respektlosigkeit war, sondern schlichte Unwissenheit, die Anne zu diesem außergewöhnlichen Bittgesuch veranlasst hatte. Während sie das Kind ins Bett brachte, gelobte sie feierlich, ihm am nächsten Tag ein Gebet beizubringen. Sie wollte gerade mit dem Licht hinausgehen, als Anne sie noch einmal zurückrief.
    »Ich weiß jetzt: Ich hätte >Amen< sagen sollen anstatt >mit vorzüglicher Hochachtung«, nicht wahr? So macht es jedenfalls der Pfarrer immer, es ist mir bloß eben nicht eingefallen. Meinen Sie, das macht einen großen Unterschied?«
    »Ich ... nein, das glaube ich nicht«, antwortete Marilla. »Sei jetzt ein braves Kind und schlaf ein. Gute Nacht.«
    Marilla ging in die Küche hinunter, stellte energisch die Kerze auf den Tisch und sah Matthew fest in die Augen. »Matthew Cuthbert, es ist an der Zeit, dass sich jemand dieses Kindes annimmt!«, verkündete sie. »Und von nun an wird das meine Aufgabe sein.«

07 - Von Fenster- und Busenfreundinnen
    Am nächsten Morgen erzählte Marilla Anne zunächst noch nicht, dass Matthew und sie sich entschlossen hatten, sie auf Green Gables zu behalten. Den ganzen Vormittag über hielt sie das Kind mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt und beobachtete es aufmerksam. Schon bald kam Marilla zu dem Schluss, dass Anne gewandt und folgsam war und sowohl Arbeitswillen als auch eine schnelle Auffassungsgabe besaß. Nicht zu leugnen war freilich ihre Neigung, mitten in einer Arbeit in Träumereien zu versinken und darüber alles um sie herum zu vergessen — nur eine Ermahnung oder der Eintritt einer Katastrophe konnte sie dann in die Wirklichkeit zurückrufen.
    Als Anne nach dem Mittagessen mit dem Geschirrspülen fertig war, ging sie mit großen Schritten auf Marilla zu. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck verzweifelter Entschlossenheit: Sie war offenbar bereit, sich dem Schlimmsten zu stellen. Ihr kleiner Körper zitterte und ihre Pupillen waren so groß, dass ihre Augen fast schwarz aussahen. Schließlich fasste sie nach Marillas

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