Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung
Einhalt.
»Dann verstehe ich, was Mr. Elliot gestern abend meinte«, sagte Anne. »So hängt das also zusammen. Er sagte, er habe schon früher von mir erzählen hören. Ich konnte mir nicht erklären, wie. Zu welch abenteuerlichen Phantasien man sich versteigt, wenn es um das liebe Selbst geht! Und wie unweigerlich sie verfehlt sind! Aber verzeihen Sie, ich habe Sie unterbrochen. Das heißt, Mr. Elliot hat ausschließlich des Geldes wegen geheiratet? Das war sicher mit das erste, was Ihnen die Augen über seinen Charakter geöffnet hat?«
Hier zögerte Mrs. Smith kurz. »Ach! so etwas ist nur zu verbreitet. Wenn man in der großen Welt lebt, sieht man zu viele Männer und Frauen, die nur aus Geldgründen heiraten, um daran so viel Anstoß zu nehmen, wie man sollte. Ich war sehr jung und verkehrte ausnahmslos mit jungen Leuten, und wir waren ein lebenslustiges, gedankenloses Volk ohne irgendwelche strikten Verhaltensgrundsätze. Wir lebten nur dem Vergnügen. Heute denke ich anders darüber; die Zeit, meine Krankheit und der Kummer haben mir andere Maßstäbe vermittelt; aber damals, muß ich gestehen, fand ich an Mr. Elliots Vorgehen nichts Verwerfliches. ›Jeder ist sich selbst der nächste‹, so lautete die Devise.«
»Aber war sie nicht aus sehr niedrigen Verhältnissen?«
»Doch, was ich auch monierte, aber er scherte sich nicht darum. Geld, Geld, das war alles, worum es ihm ging. Ihr Vater war Viehzüchter, ihr Großvater Schlachter, aber das alles kümmerte ihn nicht. Sie war eine gutaussehende Frau, sie hatte eine ordentliche Schulbildung, irgendwelche Verwandten hatten sie unter ihre Fittiche genommen, der Zufallließ sie Mr. Elliots Weg kreuzen, sie verliebte sich in ihn – und ihm war ihre Herkunft keine Sekunde des Zauderns oder der Skrupel wert. Seine ganze Vorsicht bestand darin, sich der tatsächlichen Größe ihres Vermögens zu vergewissern, ehe er sich an sie band. Glauben Sie mir, so hoch Mr. Elliot seinen Rang seither zu schätzen gelernt hat, als junger Mann hatte er dafür nichts als Verachtung übrig. Die Aussicht auf Kellynch galt ihm vielleicht etwas, aber auf die Familienehre gab er keinen Pfifferling. Wie oft habe ich ihn nicht sagen hören, wenn Baronetstitel verkäuflich wären, dürfte jeder den seinen für fünfzig Pfund haben, Wappen und Wahlspruch, Name und Livree inbegriffen; aber ich werde mich hüten, auch nur die Hälfte dessen zu wiederholen, was ich zu dem Thema aus seinem Munde vernommen habe. Es wäre nicht recht. Und doch sollten Sie einen Beweis bekommen, denn was ist all dies außer Behauptung? – und Sie sollen Ihren Beweis haben!«
»Nicht doch, meine liebe Mrs. Smith, ich brauche keinen«, rief Anne. »Nichts von dem, was Sie sagen, widerspricht ja dem Eindruck, den wir bis vor kurzem von Mr. Elliot hatten. Nein, Sie bestätigen nur, was wir all die Jahre gehört und geglaubt haben. Mich interessiert viel mehr, warum er plötzlich so gewandelt sein soll.«
»Dann eben, um mich zufriedenzustellen; wenn Sie die Güte hätten, nach Mary zu klingeln – nein, bleiben Sie, ich bin sicher, Sie haben die noch größere Güte, selbst nach meinem Schlafzimmer hinüberzugehen und mir das kleine Intarsienkästchen zu bringen, das im obersten Schrankfach steht.«
Anne, die ihre Freundin so ernsthaft entschlossen sah, tat wie ihr geheißen. Das Kästchen wurde geholt und vor sie hingestellt, und Mrs. Smith seufzte, als sie es aufschloß, und sagte:
»Das sind alles Schriftstücke von ihm, von meinem Mann, nur ein Bruchteil dessen, was ich durchsehen mußte, nachdemich ihn verloren hatte. Den Brief, nach dem ich suche, hat ihm Mr. Elliot vor unserer Hochzeit geschrieben, und er hat ihn aufgehoben, Gott weiß warum. Aber in diesen Dingen war er nachlässig und unmethodisch, wie viele Männer; und als ich seine Papiere durchging, fand ich den Brief zusammen mit noch belangloseren Schreiben von diversen Leuten, hier und dort verstreut, während viele Schreiben und Dokumente von größter Wichtigkeit vernichtet worden waren. Hier ist er. Ich mochte ihn nicht verbrennen; ich war damals schon höchst befremdet über Mr. Elliot und entschlossen, jeglichen Beleg früherer Nähe aufzubewahren. Jetzt habe ich einen Grund mehr, froh zu sein, daß ich ihn vorweisen kann.«
So lautete der Brief, adressiert an »Charles Smith, Esq., Tunbridge Wells« und geschrieben in London vor etlichen Jahren, im Juli 1803:
»Mein lieber Smith!
Danke für Deine Nachricht. Deine Güte
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