Anne Frasier
würde auch nur wissen, dass sie je gelebt hatte.
Nein, erklärte die Hebamme ihr, alles war ganz in Ordnung. So sollte es sein.
Um 11:24 Uhr, fünf Monate nach dem Tod ihrer Mutter, gebar Claudia Reynolds einen Jungen von 51 Zentimetern und dreieinhalb Kilo. Sofort, als sie in sein süßes kleines Gesicht sah, in diese süßen Augen, mit denen er noch gar nichts sehen konnte, war sie verloren, sie spürte eine so machtvolle Liebe, dass sie sich geradezu fürchtete. Und sie dachte, für ihn könnte sie alles Pech der Welt ertragen.
»Seine Augen«, sagte sie erstaunt, als die Krankenschwester das in ein Handtuch gewickelte Baby in Claudias Arme legte, »sie sind so blau.«
»Die meisten Neugeborenen haben blaue Augen. Normalerweise ändert sich das nach ein paar Wochen.«
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte Claudia das Gefühl, die Augenfarbe ihres Babys würde sich nicht verändern.
Sie würde den Rest seines Lebens von einem tiefen Meeresblau bleiben.
Die Schmerzen, die sie neun Stunden lang ertragen hatte, waren vergessen, vertrieben durch eine neue Art Schmerz, den Schmerz einer derart strahlenden Liebe, dass sie weh tat. Sie konnte sie im Hals fühlen, im Kopf, hinter ihren Augen.
Erstaunt berührte sie die kleine, rote, zerknitterte Hand mit den Miniatur-Fingernägeln. Und später; als er weinte und weinte, weinte auch sie. Und weil die Liebe, die sie empfand, so monumental war, so riesengroß, so mächtig, wusste sie, dass sie verdammt noch mal die beste Mutter der ganzen Welt sein würde.
Zu behaupten, dass sie auf das Muttersein nicht vorbereitet gewesen war, wäre eine Untertreibung. Sie hatte nie irgendetwas mit Babys zu tun gehabt, und es gab auch keine ältere, erfahrenere Frau, die ihr helfen konnte. Das allein war schon Rezept genug für eine Katastrophe, denn mit guten Vorsätzen allein konnte man kein Kind großziehen. Eine Frau brauchte einen Plan. Eine Frau brauchte Unterstützung. Eine Frau brauchte Schlaf. Gott, wie sehr sie Schlaf brauchte.
Die Krankenschwestern im Krankenhaus hatten ihr gezeigt, wie sie ihren Sohn badete, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Nabel trockenzuhalten. Sie zeigten ihr, wie sie ihn dazu brachte, ihre Brustwarze in den Mund zu nehmen,
und wie sie die Windeln wechselte. Sie zeigten ihr, wie sie ihn warm hielt, und was zu tun war, wenn ihm zu warm wurde.
Aber sie war unsicher in ihrer neuen Rolle und bettelte darum, noch einen Tag im Krankenhaus bleiben zu dürfen, bloß einen Tag länger.
Nein.
Fünfunddreißig Stunden nachdem ihr Baby geboren worden war, nahm Claudia ein Taxi nach Hause. Mit ihrem geliebten Bündel stieg sie die Treppe zu ihrer Wohnung hoch.
Sie fragte sich nie, was sie getan hatte. Sie bereute nie ihre Entscheidung, ihn behalten zu haben. Er war ein Plus, ein Riesengewinn.
Denn ihr Leben hatte jetzt einen Sinn, sie hatte jetzt einen Grund, auf der Welt zu sein, der über ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinausging und ein unschuldiges, hilfloses Kind einschloss. Ihr Kind. Wieder einmal war ein männliches Wesen der Mittelpunkt ihrer Welt - und sie erlaubte sich, von ihm gefressen zu werden.
Sie würde ihn Adrian nennen.
Claudia war nicht abergläubisch, und dennoch überlegte sie für einen kurzen Augenblick, ob sie ihm einen biblischen Namen geben sollte, nur um Gott gnädig zu stimmen. Aber sie hatte genug von Männern mit biblischen Namen.
Die Probleme begannen am zweiten Tag daheim. Er weinte die ganze Zeit, aber wenn sie in seine Windel schaute, war sie nicht feucht. Ihre Brüste fühlten sich mittlerweile an wie Steine und frustrierten ihn nur, wenn sie versuchte, ihn trinken zu lassen.
Mitten in der Nacht zog sie sich eine Jogginghose an, weil sie immer noch nicht in ihre Jeans passte. Ihre Augen brannten vom Schlafmangel, und sie zog ihr Baby an, den kleinen Adrian, und trug ihn die Treppe hinunter auf die Straße, in einen Supermarkt an der Ecke, der die ganze Nacht geöffnet war.
Im Laden kaufte sie eine Babyflasche, die geformt war wie ein langgezogenes O, dazu zwei Dosen Fertigmilch, und ging wieder nach Hause.
Als sie ihre Wohnung erreichte, war die Tür nicht verschlossen. Diese Unachtsamkeit verängstigte sie. In ihrer Erschöpfung und Sorge hatte sie vergessen, die Tür zu verriegeln.
Sie holte es jetzt nach, schloss hinter ihnen ab. Sie legte Adrian in seine Wiege, wusch und sterilisierte die Babyflasche so schnell wie möglich, dann goss sie die satt riechende Fertigmilch hinein.
Als sie
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