Anne Frasier
unsicheren Beinen aus seinem Käfig, trank ein bisschen Wasser, das Ivy ihm hingestellt hatte, dann tat er noch ein paar Schritte und stürzte, das Glöckchen an seinem Halsband bimmelte.
»Du armes Ding.«
Ivy nahm ihn hoch, und die schwere Schlaffheit seines Körpers war ein krasser Kontrast zu der angespannten Drahtigkeit, die sie normalerweise fühlte, wenn sie ihn hielt. Sie würde ihm auf dem Rückweg nicht ganz so viel von dem Tranquilizer geben.
Es war offensichtlich, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Sie nahm sein Stretch-Halsband ab, zog es über seinen Kopf. Dann zeigte sie ihm das Katzenklo, an dem er misstrauisch schnupperte, bevor er zurück in den Käfig stapfte - eine Unterkunft, die er normalerweise schreiend und kreischend mied.
Ivy hängte das kleine rote Halsband mit der winzigen Glocke und dem silbernen Tollwut-Schildchen an den Türknauf, dann setzte sie sich wieder an den Tisch und atmete tief durch.
Der Geruch der Innenstadt ... alter Schweiß, Bratfett, schimmlige Tapeten, die auf vermodertem Holz klebten. Plastikmülltonnen voll mit dreckigen Windeln. Saure, ausgekotzte Milch, die an dreckigen Handtüchern klebte.
Die Geräusche der Stadt. Sirenen. Das Reifenquietschen auf heißem, sonnenweichem Asphalt. Das Weinen eines Babys. Der dumpfe Bass der Rapmusik aus dem aufgemotzten blauen Chevy, der langsam die schmale Straße auf und ab fuhr. Der fette Motor grummelte testosterontief.
Das Apartment mit seiner leichten Heruntergekommenheit ...
Das alles ließ Ivy zurückdenken an einen Tag, von dem sie gehofft hatte, ihn aus großer Entfernung betrachten zu können. Aber Vergangenheit und Gegenwart mischten sich miteinander, und sie erkannte verärgert, dass ihr Leben sich nicht geradlinig vorwärts bewegt hatte, sondern rückwärts in sich selbst hineinspiralte, bis sie nur einen Atemzug von gestern entfernt war.
Es heißt, aller schlimmen Dinge sind drei. Das galt auf jeden Fall für Claudia Reynolds, die Frau, die Ivy einst gewesen war. In kurzer Zeit hatte sie alle, die ihr etwas bedeuteten, verloren: ihren Vater, ihre Mutter, ihren Freund.
Unter ihrem Foto in dem Highschool-Jahrbuch aus dem Vorort von Des Moines stand nur »Girl Most Likely«. Das konnte man so oder so lesen, aber in Claudias Fall hatte es bedeutet: »Girl Most Likely To Succeed« - sie wird bestimmt groß rauskommen! Sie hatte nach ihrem Abschluss so viele Stipendien angeboten bekommen, dass sie sich aussuchen konnte, wohin sie ging, und schließlich hatte sie sich für die University of Chicago entschieden. Damals ereigneten sich in keiner Stadt der Welt mehr Morde als in Chicago, aber das hinderte sie nicht daran, an die Uni zu gehen, die ihr Freund gewählt hatte.
Sie hatte vorgehabt, Modedesign zu studieren. Das schien ihr heute frivol, hohl - und dennoch wurde sie noch immer angezogen von Stoffen in reichhaltigen Farben und von faszinierender Textur. Aber sie hatte ohnehin nicht studiert, um einen Abschluss zu machen, sondern um Daniel nahe zu sein. Sie hatte sich vorgestellt, dass ihre Beziehung schnell den Punkt erreichen würde, an dem sie zusammenzogen. Ihre Träume teilten. Die Zukunft teilten. Sie wurde schwanger.
Bis zu ihrer Schwangerschaft war ihr Leben geradezu peinlich perfekt gewesen. Claudia Reynolds widerfuhr nichts Schlimmes. Als sie klein war, war sie so ein Glückspilz gewesen, dass die Leute ihr über den Kopf streichelten, um etwas von dem Glück abzubekommen. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie einen Lottoschein gekauft und eine halbe Million Dollar gewonnen. Aber später zog man das Geld wieder ein, weil sie nicht alt genug gewesen war, um überhaupt Lotto zu spielen. Eigenartig.
Bei einem Hockeyspiel der Schulmannschaft hatte der Torhüter sie seine stinkigen Handschuhe küssen lassen - und seine Mannschaft hatte gewonnen. Danach hielt er immer erst nach ihr Ausschau, bevor er aufs Eis ging. Einmal, als sie nicht da war, um seine Handschuhe zu küssen, brach er sich den Arm und musste den Rest der Saison aussetzen. Im nächsten Jahr kam er nicht wieder richtig in Schwung, und nach einem Monat Bankwärmen schmiss er hin und ging mit verletztem Stolz.
Es war keine gute Sache, der Glücksbringer von irgendwem zu sein. Der Druck war hoch, und es konnte so viel schief gehen.
Ihre unbeabsichtigte Schwangerschaft brachte alles aus dem Gleichgewicht, und plötzlich war ihr Leben nicht mehr glückserfüllt, sondern verflucht. Und als die schlimmen Dinge erst mal losgingen,
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