Anne Frasier
sofort und ohne Gefühlsausbruch antwortete. »Nein, aber meine Freundin Helen sagt, einen Teenager im Haus zu haben ist wie im Kriegsgebiet leben, man muss jederzeit kampfbereit sein.«
Er lachte und steckte sein Telefon weg. »Ethan ist ein guter Junge. Ein großartiges Kind. Wir haben bloß ein paar Schwierigkeiten. Das schaffen wir schon.«
Es waren nicht so sehr die Worte, sondern die Gefühle und die Betonung dahinter, die Ivy verrieten, dass er seinen Sohn sehr liebte.
Mit dem nächsten Apartment war er, wenn auch zögernd, einverstanden. Es war möbliert, was hieß, dass man Laken, Handtücher, Fernseher und Geschirr hatte. Außerdem gab es einen Block entfernt einen Lebensmittelladen.
Die Wohnung hatte praktisch kein Wohnzimmer. Wenn man eintrat, stand man sofort in der Küche. Das Erste, was man roch, war das Gas des Zündflämmchens im Ofen. Es gab einen kleinen Küchentisch mit zwei schwarzen Stühlen, zwei Schritte daneben eine weiße Emaillespüle. Links von der Kochzeile befand sich das Schlafzimmer, davon ab ging das Bad. Neben dem Doppelbett gab es ein Fenster, das so dick in Weiß lackiert war, dass man es schwer auf und zubekommen würde. Ivy konnte sehen, dass das Gebäude einmal ganz schön gewesen war, vor vielen Jahren; es hatte immer noch eine Spur verblichener Eleganz, zum Beispiel die schönen Holzböden und die schmucken Deckenlampen.
Hier lebten Studenten. Und Geschäftsleute, die eigentlich woanders zu Hause waren. Bauarbeiter. Wurzellose Menschen in Übergangsphasen ihres Lebens. Ein paar Kinder. Mütter während der Scheidung. Oder vielleicht hatten die Männer sie einmal zu oft geschlagen, und sie waren ausgezogen.
Es war kein fröhliches Haus. Aber ein ordentliches Haus.
»Bringen Sie noch einen Riegel an der Tür an«, bat Max den Vermieter.
Ivy holte Jinx aus Max' Auto. Max schien plötzlich ganz begierig, ihren großen schwarzen Koffer die zwei Treppen hochzutragen. Er stellte ihn hinter die Tür und legte die Akten - eine dicke, eine dünne - auf den schmalen Küchentresen.
»Es gibt keine direkte U-Bahn von hier zur Grand-Central-Polizeiwache«, erklärte ihr Max. »Sie müssen mit der Green Line zum Hauptbahnhof fahren und dann den Metrobus nehmen.«
»Das bekomme ich schon hin.« Sie kannte diese Gegend Chicagos nicht, hatte aber einen guten Orientierungssinn.
Nachdem Max gegangen war, lockte Ivy den immer noch benommenen Jinx, sie öffnete seinen Käfig, damit er herauskommen konnte, wenn ihm danach war. Sie stellte ihm Wasser hin, das zu trinken er sich weigerte, und schüttete Trockenfutter in eine Schale.
Solange er noch benommen war, ging sie zum Laden an der Ecke und kaufte ein paar Esssachen, zusammen mit Drogerieartikeln wie Zahnpasta, Toilettenpapier und Reinigungsmitteln.
Im Apartment zog sie gelbe Gummihandschuhe an und reinigte das Badezimmer - eine Badewanne mit Klauenfüßen, ein Waschbecken, ein Medizinschränkchen und eine Toilette - mit einem so starken Desinfektionsmittel, dass ihre Augen und ihr Hals brannten.
Als sie erledigt hatte, was notwendig war, damit ihr neues Heim bewohnbar erschien, und sie das Unausweichliche nicht mehr länger hinausschieben konnte, setzte sie sich an den Tisch und öffnete die dicke Akte, auf der stand: »Madonna-Morde«.
6
Ivy starrte das schwarz-weiße 13-x-19-Hochglanzfoto an. Eine ermordete Frau in einem Park in der Nachbarschaft vor sechzehn Jahren; ihre Leiche war in die Büsche gezerrt worden, ihr Baby war nicht weit entfernt gefunden worden, liebevoll eingewickelt in eine blaue Decke.
So wie man das Baby gefunden hatte, war es typisch für Morde durch Verwandte, oft durch Eltern. Jemand, der das Kind liebte. Aber der Madonna-Mörder kannte höchstwahrscheinlich keines seiner Opfer. Und wenn doch, dann wahrscheinlich nicht besonders gut. Doch in seinem wirren Hirn glaubte et, sie zu kennen. Auf seine Art glaubte er; dass alle Opfer ihm gehörten.
Die Mütter behandelte er nicht mit demselben - aus Mangel an einem besseren Wort - Respekt. Ihre Leichen hinterließ er wie Müll, mit Stichwunden in Brust und Bauch, mit Druckmalen und blauen Flecken von den Fingern des Mörders am Hals. Es war viel darüber diskutiert worden, was zuerst kam, die Stiche oder das Erwürgen. Die Todesursache war manchmal Ersticken, manchmal Verbluten.
In dem kleinen Apartment gab es keine Stühle, nur Barhocker. Nichts, um es unter den Türknauf zu klemmen. Jinx miaute, er erwachte aus seinem Drogenschlaf. Er wagte sich auf
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