Anne Frasier
hörten sie gar nicht wieder auf.
Ihre Regelblutung hatte sie immer unregelmäßig gehabt, und als Claudia klar wurde, dass sie schwanger war, konnte sie keine Abtreibung mehr vornehmen lassen - und sie hätte das wohl auch nicht gewollt. Doch bevor sie die Neuigkeit verbreiten konnte, verkündete ihr Freund weinend, dass er jemand anders kennen gelernt hatte.
Eine Woche später erlitt ihr Vater, ein Grundschullehrer, einen Herzanfall und starb. Danach schien Claudias Mutter, die in allem von ihrem Mann abhängig gewesen war, ihren Lebenswillen zu verlieren.
Sie baute geistig ab. Der Arzt verschrieb ihr Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Derart benommen trat sie vom Bürgersteig mitten in den Verkehr und wurde augenblicklich überfahren. Aber Claudia wusste, was sie in Wahrheit getötet hatte: die Trauer.
Und so veränderte sich etwas in der Welt, und Claudia wurde zu einem der Menschen, die sie immer nur aus der Ferne betrachtet hatte, bei denen sie nie überlegt hatte, wie ihr Leben wirklich war.
In den drei Jahren, die sie mit Daniel zusammengewesen war, hatte ihr Freundeskreis sich auf zwei Menschen reduziert - sie selbst und Daniel. Als es vorbei war und sie ohne die rosarote Brille zurückschaute, fragte sie sich, warum sie zugelassen hatte, dass sie sich in eines dieser Mädchen verwandelte, das für einen Menschen, und nur für diesen einen Menschen, atmete. Sie hatte zugelassen, dass jemand, den sie nicht mal richtig kannte, sie auffraß. Von diesem Augenblick an, schwor sie, würde sie nie wieder einen Mann das Wichtigste in ihrem Leben sein lassen.
Ihre Eltern hatten sehr wenig für die Rentenzeit zurückgelegt. Claudia blieb nichts anderes übrig, als das Haus zu verkaufen, das zehn Jahre lang noch nicht abbezahlt gewesen wäre. Mit dem Erlös beglich sie die Beerdigungskosten und die verbleibenden Rechnungen, dann zog sie nach Chicago, um ihre Ausbildung zu Ende zu führen. Wenn sie aufpasste, würde das Geld ein Jahr reichen, vielleicht länger. Und wenn das Baby auf der Welt wäre, würde sie sich eine Arbeit suchen.
Sie war im siebten Monat schwanger, als sie ein kleines Apartment im zweiten Stock eines fünfstöckigen Gebäudes mietete, das sich zwischen einem in sich zusammensackenden Art-Deco-Theater und der Mission Saint Cristobel befand, wo die Obdachlosen zwei warme Mahlzeiten täglich bekamen.
Claudia arbeitete drei Tage die Woche bei der Armenspeisung.
Sie war zwar schwanger, aber sie war noch kräftig, sie konnte noch arbeiten, also half sie, wo sie konnte. Im Gegenzug halfen ihr Fremde.
Später wollte die Polizei wissen, wen sie bei der Armenspeisung kennen gelernt hatte, mit wem sie gesprochen hatte, was natürlich unmöglich war. Sie kannte viele der Gesichter, aber jeden Tag kamen neue. Manche Leute sah sie einmal, dann nie wieder Und unglücklicherweise fielen einem manche Leute auch einfach nicht auf. Sie waren arm, sie waren schmutzig, sie waren hungrige, verlorene Seelen, Das vor allem blieb ihr in Erinnerung.
Sie versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, denn die Welt bestand aus lauter Fragen, auf die es keine Antworten gab, aber manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie sich trotz allem fragte, wieso und warum ihr Glück sich in Pech verwandelt hatte. Ihr Glück hatte sie vielleicht nicht unbedingt oberflächlich werden lassen, aber sie hatte doch einen ganz speziellen Blick aus einem Fenster gehabt, das sie nicht verlassen wollte. Sie hatte schon gewusst, dass es arme Menschen gab, sie hatte auch für Obdachlose gespendet, aber sie hatte nie die Tragik der Armut verstanden. Sie hatte dieses ihr fremde Leben nie von innen kennen gelernt.
Sie fürchtete sich vor dem Schmerz, deshalb ging sie zur Geburtsvorbereitung, drückte ein Kissen gegen ihren wachsenden Bauch. Sie war die Einzige ohne Partner in einer Klasse von vierzig Frauen. Jacob, ein freiwilliger Helfer bei der Mission, bot an, ihr Partner zu sein, aber sie lehnte ab. Er hatte schon genug für sie getan.
Jacob hatte ihr geholfen, die Wohnung zu finden. Seine Mutter war Sozialarbeiterin, und er wusste, was einer alleinstehenden, arbeitslosen Schwangeren zustand. Er erzählte ihr von den kostenlosen Mahlzeiten in der Mission. Er brachte sie in ein Krankenhaus, wo man sich ihrer annahm.
Die Geburt war die Hölle.
Wie konnte so etwas natürlich sein? Da musste etwas schiefgelaufen sein. Sie wurde fast entzweigerissen. Und dann fiel ihr etwas ein: Wenn sie starb, würde niemand sie vermissen. Niemand
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