Anne Frasier
wollte. Sie stand da und starrte auf die Speisekarte an der Wand, sie wartete darauf, dass sie eine Eingebung hatte, als könnte die Karte sich noch ändern oder anfangen zu blinken oder so. Wer weiß?
Ethan wünschte sich, ein Blitz würde sie alle erschlagen.
Es war ein Bagel-Laden, um Gottes willen, keine Fünf-Sterne-Klitsche in der Innenstadt, wo Ethan als Nächstes einen Hundert-Dollar-Wein anbieten würde. Warum nur konnten die Leute sich nicht entscheiden?
Er wartete ungeduldig, während die Schlange hinter ihr bis zur Tür wuchs.
Schließlich sagte sie: »Ich nehme einen normalen Bagel mit Frischkäse.«
So war das mit den Leuten, die sich nicht entscheiden konnten. Sie bestellten immer das Langweiligste auf der Karte.
»Frischkäse light oder normal?«
»Mhm?«
»Frischkäse light oder normal?« Er hätte nicht fragen sollen, aber Kunden wie sie waren auch immer diejenigen, die den Bagel zurückbrachten, weil sie einen anderen Frischkäse wollten.
In ein paar Stunden hatte er Schluss, aber er freute sich nicht darauf. Sein Vater würde ihn abholen, und dann gingen sie ins Kino. Begriff Max es denn nicht? Konnte er nicht erkennen, dass Ethan nicht mehr mit ihm rumhängen wollte? Diese Künstlichkeit - er konnte sie nicht mehr ertragen. Dass Max sich so große Mühe mit diesen Vater-Sohn-Ausflügen
gab, empörte ihn. Wenn Ethan, als er klein war, im Fernsehen etwas gesehen hatte, was ihm Angst machte, summte er vor sich hin: »Das stimmt gar nicht. Das stimmt gar nicht.« Genau das machte er jetzt mit Max.
Die Frau, die sich so schlecht entscheiden konnte, ging am Tresen entlang, wo sie wahrscheinlich eine weitere Stunde damit verbringen würde, sich zu entscheiden, ob sie einen Latte oder einen Espresso wollte, und Himbeer- oder Schoko-Mandel-Geschmack.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er den nächsten Kunden.
Sein Vater und er hatten einander immer nahe gestanden - deswegen lag ihm die Wahrheit schwer im Bauch wie ein Haufen mit Schimmel überzogener Steine. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Ethan sich mit einem Nachbarsjungen gestritten. Um ihn zu verletzen, hatte der Junge ihm gesagt, dass Max Ethan nur adoptiert hatte, weil seine Mutter krepiert war und darum gebettelt hatte, dass er ihn nahm und für ihn Vater spielte.
Das machte aus Ethan ein armes Würstchen.
Es war schlimm genug, zu erfahren, dass man adoptiert war, aber man konnte sich immer noch sagen, dass der Vater einen wollte, ein Kind wollte, sonst hätte er es ja nicht getan.
Jetzt konnte er nicht einmal mehr das glauben ...
Zuerst hatte Ethan versucht, sich nicht weiter damit zu beschäftigen, aber am Ende konnte er den Gedanken doch nicht verdrängen und musste ihn als Wahrheit anerkennen. Das ergab Sinn. Er kam sich blöd vor, dass er nicht schon lange darauf gekommen war. Er wusste, dass Max seine Mutter nicht lange gekannt hatte, weshalb sonst hätte er ihn adoptieren sollen? Max war einer von den Leuten, die immer das Richtige tun wollten. »Pflichtbewusst«, war das Wort, das Ethan dafür benutzte.
Aber es war schrecklich und deprimierend, anzuerkennen, dass die eigene Kindheit Lug und Trug gewesen war. Dass seine Vergangenheit einen Teppich darstellte, den man ihm jetzt unter den Füßen wegzog. Dass all die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, bloß Pflichterfüllung gewesen war.
Max sagte Ethan immer, dass man sich um diejenigen kümmern musste, die weniger Glück hatten. So lange er zurückdenken konnte, hatte Max Geld an ein Mädchen und einen Jungen in Bolivien geschickt. Diese Kinder waren jetzt erwachsen und schrieben ihnen immer noch Weihnachtskarten und Briefe, und Max unterstützte mittlerweile zwei neue Kinder.
Ethan hatte das immer cool von Max gefunden, bis er herausgekriegt hatte, dass er selbst auch so ein Kind war. Zumindest wussten sie, dass sie arme Würstchen waren. Zumindest log man ihnen nichts vor.
Er wollte mit jemand darüber reden, aber seine Kumpel redeten nicht über so etwas. Denen wäre das peinlich, es wäre komisch, und sie hätten sowieso keine Antworten. Das kapierte man, wenn man älter wurde. Wenn man klein war, dachte man, man wäre bloß zu jung, um die Antworten zu verstehen, und wenn man älter würde, dann würde sich alles klären.
Aber schließlich musste man sich der Wahrheit stellen: Es gab keine Antworten.
Ethan drehte sich gerade um, als sein Kollege auf den normalen Bagel mit dem Frischkäse light spuckte.
»Was zum Teufel machst du da?«, flüsterte
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