Anne Frasier
der frühesten Fälle, bei dem ein Schriftgutachter eine Schlüsselrolle gespielt hatte, war die Lindbergh-Entführung. Aber man musste zudem über die Fähigkeiten eines Linguisten verfügen, um ein tatsächliches Profil zu entwerfen. Indem sie die Reihenfolge der Wörter, ihre Verwendung und die Sprachmuster untersuchten, konnten Linguisten Geschlecht, Ausbildung und sogar Hautfarbe ermitteln. Ein guter Experte konnte oft sogar den Stadtteil angeben, in dem der Verdächtige aufgewachsen war.
Im zweiten Stock der Madonna-Einsatzzentrale wurden die Briefe sorgfältig sortiert und untersucht, drei von ihnen erweckten die Hoffnung, echt zu sein. Dann schickte man sie ins Labor, wo Briefe und Umschläge fotografiert und auf Mikrofasern untersucht wurden. Danach wanderten sie nach unten zu den Fachleuten.
Außerdem waren weitere Maßnahmen eingeleitet worden. Der Friedhof, auf dem die letzten Opfer begraben worden waren, stand unter Beobachtung, die Erwartungen der Mitglieder der Einsatzgruppe waren hoch. Es musste endlich etwas passieren.
Harold Doyle war seit neun Jahren zertifizierter Schriftgutachter beim Chicago Police Department. Er hatte an Entführungsfällen gearbeitet, an Vergiftungen, Banküberfällen Geldfälschungen und Unterschlagung. Er war gut, aber nicht hochnäsig.
Kaum hatte er die Briefe aus dem Labor erhalten, faxte er Kopien an das FBI in Quantico und an Patty Hund, die Linguistin in Chicago. Dann begann er mit seiner eigenen sorgfältigen Untersuchung.
Er betrachtete die Briefe unter einem hoch auflösenden Mikroskop, danach begann die mühsame Suche, ob man in den in Frage stehenden Dokumenten etwas fand. Er untersuchte das Papier mit Hilfe des ESDA, des Electro Static Detection Apparatus, der Druckstellen mit Graphit füllte, und schickte Kopien an alle Behörden, in denen Unterschriften in den Akten lagen.
Seine Aufgabe bestand nicht darin, den Inhalt der Briefe zu beurteilen, aber trotzdem las er sie.
Der erste war mit schwarzer Tinte handgeschrieben. Die Buchstaben waren klein, der Autor hatte stark aufgedrückt, sehr nachdrücklich.
Schlimm genug, dass Sie zulassen, dass Grausamkeiten die Seite eins der Zeitung dominieren, aber jetzt haben Sie sich herabgelassen zu etwas, das man nur noch Drecksjournalismus nennen kann. Glauben Sie, eine solche Vorgehensweise wird Ihnen mehr Leser bescheren? Glauben Sie, es wird das Gewissen des Mörders belasten, sodass er sich stellt und gesteht? Beleidigen Sie nicht seine Intelligenz.
Der nächste Brief sah aus wie von einer weiblichen Hand verfasst, klein und eng, mit einer Neigung nach rechts. Auf den ersten Blick vermutete Doyle, dass er von einer Frau Mitte sechzig geschrieben worden war. Aber er würde ihn trotzdem begutachten und einen Bericht schreiben.
An den Chefredakteur.
Schande über Sie. Was glauben Sie, wie sich die Familien der Opfer fühlen, wenn Sie einen Brief lesen, den ihr toter Enkel oder Neffe »geschrieben« hat? Was glauben Sie, wie die sich fühlen, wenn sie die Zeitung aufschlagen und das sehen? Ich kündige mein Abonnement. Schande über Sie.
Der letzte Brief war auf einem Inkjet-Printer gedruckt worden und ähnelte dem ersten, allerdings war er an die Polizei selbst adressiert.
CPD.
Der Brief in der Zeitung von gestern zeigt offen, wie wenig Ahnung Sie haben. Jeder, der ihn liest, erkennt ihn als die verzweifelte Bitte, die er darstellt, das Eingeständnis Ihrer vollkommenen Ratlosigkeit. Warum nicht einfach die Überschrift drucken: WIR HABEN KEINE AHNUNG? Haben Sie keinen Stolz? Kennen Sie keine Scham? Sich auf derart lächerliche Spielchen einzulassen! Warum graben Sie nicht Ihren Detektiv-Spielkasten aus?
Doyle vermutete, dass den ersten und den letzten Brief derselbe Absender verfasst hatte, aber endgültig müsste Patty Hund das feststellen.
Das Klingeln des Telefons weckte sie.
Mit klopfendem Herzen hob Ivy den Hörer ans Ohr, sie erwartete, dass ein weiterer Mord begangen worden wäre.
»In Ihrem Profil haben Sie geschrieben, dass er vielleicht vorhatte, einen Abschluss in Mathe zu erlangen. Aber alles sind Zahlen.« »Max?«
Ivy drückte auf den Knopf, der das grüne Lämpchen an ihrem Reisewecker leuchten ließ. 2:50 Uhr nachts. »Alles. Die dreizehn Stichwunden. Dann die zweiundzwanzig Stichwunden. Selbst die Nummer Ihrer alten Wohnung, obwohl das vermutlich ein reiner Zufall war. Aber jemand, der sich mit Numerologie beschäftigt, könnte behaupten, dass es gar keine Zufälle
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