Anne in Kingsport
hereinbrechenden Dämmerung ans Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen, und der Sturm hatte nachgelassen. Sie fühlte sich einsam. Und sie war traurig. Denn sie fragte sich, ob sie im nächsten Semester wieder aufs Redmond gehen konnte. Es sah nicht danach aus. Das einzige Stipendium, das es gab, war kaum der Rede wert. Sie wollte aber nicht auf Marilias Geld zurückgreifen. Und es bestand wenig Aussicht, in den Sommerferien genügend Geld zu verdienen.
»Dann muss ich wohl aufhören«, dachte sie trübsinnig, »und wieder an einer Bezirksschule unterrichten, bis ich genügend zusammenhabe, um zu Ende zu studieren. Aber bis dahin haben alle Kommilitonen längst ihren Abschluss gemacht. Und Pattys Haus kommt dann auch nicht mehr in Frage. Na, Kopf hoch! Ich muss Zusehen, dass ich das Geld zusammenbekomme!«
»Da kommt Mr Harrison angestapft«, verkündete Davy. »Hoffentlich bringt er die Zeitung. Ich muss wissen, was die verflixten Republikaner so ausgeheckt haben. Ich bin nämlich ein Konservativer, Anne. Die Republikaner muss man im Auge behalten.«
Mr Harrison brachte die Zeitung und Briefe - von Stella und Priscilla und Phil. Schon war Annes Trübsal verflogen. Auch von Tante Jamesina war ein Brief dabei.
»Es war bitter kalt«, schrieb sie, »also habe ich die Katzen nachts im Haus schlafen lassen. Rusty undjoseph auf dem Sofa in der Wohnstube und Katze Sarah am Fußende meines Bettes. Ihr Schnurren tut mir richtig gut, wenn ich nachts aufwache und an meine Tochter in der Auslandsmission denke. Wäre sie nicht ausgerechnet nach Indien gegangen, würde ich mir ja nicht groß Sorgen machen, aber es soll dort ganz gefährliche Schlangen geben.«
Einen kurzen getippten Brief las Anne erst ganz am Schluss, weil sie ihn fiir unwichtig hielt. Als sie ihn gelesen hatte, saß sie ganz still und mit Tränen in den Augen da.
»Was ist los, Anne?«, fragte Marilla.
»Miss Josephine Barry ist gestorben«, sagte Anne leise.
»Dann ist sie also von uns gegangen«, sagte Marilla. »Sie war seit mehr als einem Jahr krank, die Barrys waren darauf gefasst. Es ist gut, dass sie Ruhe gefunden hat. Sie hat schlimme Schmerzen gehabt, Anne. Sie war immer so nett zu dir.«
»Sie war bis zu allerletzt nett. Der Brief ist von ihrem Rechtsanwalt. Sie hat mir tausend Dollar vermacht.«
»Meine Güte, was für ein Haufen Geld!«, rief Davy. »Das ist doch die Frau, auf die ihr draufgehüpft seid, als ihr ins Gästezimmerbett gesprungen seid, oder? Diana hat mir die Geschichte erzählt. Hat sie dir deswegen so viel vererbt?«
»Pst, Davy«, sagte Anne sanft. Tiefbewegt ging sie ins Giebelzimmer und ließ Marilla und Mrs Lynde allein, damit sie die Neuigkeiten bereden konnten.
»Meint ihr, dass Anne jetzt überhaupt noch heiraten wird?«, stellte Davy eifrig Spekulationen an. »Dorcas Sloane hat bei ihrer Heirat im letzten Sommer gesagt, wenn sie genug Geld zum Leben hätte, würde sie sich nicht mit einem Mann herumschlagen.«
»Davy Keith, du hältst jetzt den Mund«, sagte Mrs Rachel streng. »Es ist eine Schande, wie du daherredest.«
19 - Ein Intermezzo
»Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich heute zwanzig werde und endgültig aus dem Teenageralter heraus bin!«, sagte Anne, die mit Rusty im Schoß auf dem Läufer vor dem Kamin lag. Tante Jamesina saß in ihrem Lieblingsstuhl und las. Sie waren allein in der Wohnstube. Stella und Priscilla waren zu einem Komiteetreffen gegangen, Phil war oben und machte sich für eine Party zurecht.
»Du bedauerst es wohl«, sagte Tante Jamesina. »Die Jugendzeit ist eine schöne Zeit. Ich bin froh, dass ich ihr nie ganz entwachsen bin.«
Anne lachte.
»Das wirst du auch nie, Tante. Mit hundert noch wirst du dich fühlen wie achtzehn. Ja, ich bedauere es und es macht mich unzufrieden. Miss Stacy hat einmal gesagt, mit zwanzig wäre der Charakter festgelegt, so oder so. Ich finde, ich bin noch nicht so weit. Ich bin einfach noch zu unausgereift.«
»So ergeht es jedem«, sagte Tante Jamesina heiter. »Ich habe Hunderte von Fehlern. Deine Miss Stacy hat wahrscheinlich gemeint, dass man mit zwanzig die eine oder andere Richtung eingeschlagen hat und sich dann in eine bestimmte Richtung weiterentwickelt. Mach dir keine Gedanken darüber, Anne. Tu deine Pflichten und mach dir eine schöne Zeit. Das war auch immer meine Devise und sie hat sich bestens bewährt. Wohin geht Phil heute Abend eigentlich?«
»Zum Tanzen. Sie hat sich dafür extra ein wunderschönes Kleid gekauft -
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