Anne in Windy Willows
fragen, Mama, so strahlend und fröhlich, wie du aussieht«, erwiderte die jedoch schlagfertig. Der Tag hatte Pauline so viel Auftrieb gegeben, dass sie ruhig einen kleinen Scherz mit ihrer Mutter wagen konnte. »Ich bin sicher, du und Miss Shirley, ihr habt euch gut amüsiert.«
»Wir sind ganz gut miteinander ausgekommen«, geruhte Mrs Gibson zu sagen. »Ich habe ihr einfach nicht dreingeredet. Seit Jahren habe ich keine so interessante Unterhaltung mehr mit jemandem geführt. So verkalkt, wie manche Leute es gerne hätten, bin ich schließlich doch noch nicht. Dem Himmel sei Dank, dass ich nicht taub oder kindisch bin. Ich nehme an, das nächste Mal, wenn du wegfährst, nimmst du den Mond in Angriff. Meinen Sarsaparillwein hat man wohl verschmäht, wie?«
»Nein, ganz im Gegenteil! Alle fanden ihn wunderbar!«
»Wieso sagst du mir das jetzt erst?«, nörgelte die alte Frau wieder los. »Hast du die Flasche zurückgebracht - oder war das etwa zu viel verlangt?«
»Die - Flasche ist zerbrochen«, stammelte Pauline verschreckt. »Jemand hat sie aus Versehen umgestoßen. Aber Louisa hat mir eine Flasche mitgegeben, die ganz genauso aussieht, Mama, du brauchst dich also nicht aufzuregen.« Doch damit ließ sich die Gibson nicht abspeisen: »Die Flasche war uralt, ich hatte sie schon, als ich meinen Hausstand gründete. Louisas Flasche kann also gar nicht dieselbe sein. Heutzutage gibt es solche Flaschen außerdem überhaupt nicht mehr. Bring mir jetzt ein anderes Schultertuch, ich friere.
Wahrscheinlich habe ich mir einen schlimmen Schnupfen eingefangen. Könnt ihr beide euch nicht merken, dass ich die Nachtluft nicht vertragen kann? Bestimmt kriege ich wieder meine Nervenentzündung.«
In diesem Augenblick kam zum Glück zufällig ein Nachbar vorbei. Pauline ergriff die Gelegenheit beim Schopf und beschloss, Anne ein Stück zu begleiten. Anne verabschiedete sich - ehrlich erleichtert.
»Gute Nacht, Miss Shirley«, sagte Mrs Gibson in erstaunlich freundlichem Ton. »Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ich wünschte, es gäbe in dieser Stadt öfter so nette Menschen wie Sie.« Ihr zahnloser Mund verbreiterte sich zu einem Grinsen. Dann zog sie Anne zu sich heran und flüsterte: »Was andere Leute sagen, ist mir egal, ich finde Sie sehr reizend.«
Dann machten sich Anne und Pauline auf den Weg, und erst jetzt rückte Pauline so richtig mit der Sprache heraus.
»Oh, Miss Shirley, es war herrlich! Wie kann ich Ihnen nur jemals danken? Es war der schönste Tag meines Lebens und ich werde ihn nie vergessen. Es war so wunderbar, Brautjungfer zu sein, ganz so wie damals. Der Brautführer war Captain Isaac Kent. Er - er war früher einmal mein Verehrer. Ich weiß zwar nicht, ob er jemals ernste Absichten hatte, aber wir waren viel zusammen und er hat mir zweimal ein Kompliment gemacht. Lou, Molly und ich haben nach der Feier noch beim Abendessen zusammengesessen. Es war eine solche Wohltat, einmal das zu essen, was ich wollte, ohne dass mich jemand ermahnt, ich könnte es womöglich nicht vertragen. Danach sind Mary und ich zu ihrem früheren Haus hinübergegangen. Stellen Sie sich vor, im Garten stehen noch die gleichen Fliederbüsche, die wir Vorjahren gepflanzt haben. Der Sommer war immer so schön, als wir noch Kinder waren. Als später dann die Sonne unterging, liefen wir alle zur Küste hinunter, setzten uns auf einen Felsen und genossen die Stille. Die frische Meeresluft war herrlich und die Sterne spiegelten sich im Wasser. Ich hatte ganz vergessen, wie schön der Golf bei Nacht ist. Als es dunkel wurde, gingen wir zurück. Mr Gregor war schon bereit zur Abfahrt. Und jetzt«, schloss Pauline lachend, »ist die Alte wieder zu Hause.« Sie reckte die Arme. »Ich wünschte für Sie, dass Sie es nicht so schwer zu Hause hätten, Pauline«, sagte Anne vorsichtig und sah sie von der Seite an.
»Ach, jetzt macht es mir nichts mehr aus, Miss Shirley«, meinte Pauline gelassen. »Und meine arme Mama braucht mich doch. Es ist auch schön, gebraucht zu werden, wirklich.«
»Ja, es ist tatsächlich schön, gebraucht zu werden«, dachte Anne, als sie später in ihrem Turmzimmer saß, wo Dusty Miller zusammengerollt auf ihrem Bett lag. Sie dachte noch einmal an Pauline, die nun wieder in den Alltagstrott zurückkehren musste, aber durch einen einzigen glücklichen Tag ermutigt war. »Ich hoffe, ich werde immer jemanden haben, der mich braucht«, sagte Anne zu Dusty Miller. »Und es ist ein schönes Gefühl,
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