Anne in Windy Willows
lebte - ich nannte sie Tante Ida. Sie starb vor drei Jahren.«
»Jim Armstrong ist auch aus New Brunswick«, sagte Rebecca Dew. »Er stammt nicht von der Insel, sonst wäre er auch nicht so ein komischer Kauz. Wir hier haben bestimmt auch unsere Eigenheiten, aber wir wissen wenigstens, was sich gehört.«
»Ich wäre auch nicht gerade begeistert, in dem überaus liebenswerten Mr Armstrong einen Verwandten wieder zu finden«, stimmte Lewis grinsend zu. »Jedenfalls werde ich das Foto selbst bei Armstrong abliefern und versuchen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Vielleicht ist er ein entfernter Vetter oder so was. Ich weiß absolut nichts über die Verwandten meiner Mutter. Ich dachte immer, es gäbe keine mehr. Von Vater weiß ich sicher, dass er niemanden mehr hatte.«
»Aber wenn du das Bild selbst hinbringst, wird der Kleine bestimmt enttäuscht sein«, gab Anne zu bedenken. »Er ist doch so gespannt auf sein Päckchen von der Post.«
»Ich mache das schon. Ich schicke ihm was anderes mit der Post.«
Am folgenden Samstag kam Lewis in einem uralten Wagen die Spook's Lane heraufgefahren und hielt vor Windy Willows.
»Ich will nach Glencove, um Teddy Armstrong das Foto zu bringen, Miss Shirley«, erklärte er. »Falls Sie beim Anblick meines tollen Gefährts nicht gleich in Ohnmacht fallen, würde ich mich freuen, wenn Sie mitkämen.« Er musste über Annes entsetztes Gesicht laut lachen.
»Wo um alles in der Welt haben Sie denn diese Antiquität her?«, fragte Rebecca Dew, die auch an die Haustür getreten war.
»Bitte machen Sie sich nicht lustig über meine prächtige Kutsche, Miss Dew«, wies Lewis sie mit gespieltem Ernst zurecht. »Etwas mehr Respekt vor dem Alter, wenn ich bitten darf. Mr Bender hat sie mir ausgeliehen mit der Bitte ihm Kartoffeln mitzubringen. Ich hätte heute nicht die Zeit gehabt, hin- und zurückzulaufen.«
Die »Kutsche« erwies sich jedoch trotz ihres Aussehens als erstaunlich flott, als sie auf freies Gelände gelangten. Anne kicherte heimlich vor sich hin, als sie so dahinpolterten. Für Lewis war es offenbar überhaupt nicht wichtig, in was für einem Gefährt er zu seinem Ziel gelangte; es kümmerte ihn wenig, was die Leute über ihn dachten, so zum Beispiel, als ein paar Schüler ihn »Emma« nannten, weil er in seiner Pension die Hausarbeit verrichtete. Ihm war das egal. Eines schönen Tages würde er über sie lachen. Jedenfalls würden sie erst einmal das kleine »Kerlchen« wieder sehen. Als Mr Benders Schwager die Kartoffeln in den Wagen lud, erzählten sie ihm davon.
»Heißt das, Sie haben ein Foto von dem kleinen Teddy Armstrong?«, rief Mr Merrill aufgeregt.
»Ja, und es ist besonders schön geworden.« Lewis packte es aus und hielt es ihm stolz hin. »Ein Berufsfotograf hätte es bestimmt nicht besser machen können.«
Mr Merrill schlug sich auf die Schenkel und rief: »Also, das ist ja ein Ding! Wissen Sie, der kleine Teddy Armstrong ist nämlich tot.«
»Tot?!«, rief Anne entsetzt. »Nein, Mr Merrill, nein! Das kann doch nicht - der arme Kleine.«
»Es tut mir Leid, Miss, aber es ist so. Sein Vater kann es nicht fassen, und das Schlimmste ist, dass er noch nicht mal ein Foto von ihm hat. Und Sie haben eines! Ja, also!«
»Ich - ich kann es nicht glauben!«, sagte Anne, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie sah den Kleinen noch vor sich, wie er dastand und ihnen nachwinkte.
»Er ist vor fast drei Wochen an Lungenentzündung gestorben. Er muss schlimm gelitten haben, aber er war ganz tapfer und geduldig. Was jetzt aus Jim Armstrong werden soll, weiß ich nicht. Es heißt, er benimmt sich wie verrückt - lässt den Kopf hängen und murmelt ununterbrochen vor sich hin. >Wenn ich doch bloß ein Bild von meinem Kerlchen hätte!<, sagt er immer und immer wieder!«
»Der Mann tut mir Leid«, mischte Mrs Merrill sich jetzt unvermittelt ein. Sie stand neben ihrem Mann, eine magere, unscheinbare Frau, die bisher geschwiegen hatte. »Er ist wohlhabend, und ich hatte immer das Gefühl, er schaut auf uns herab, weil wir arm sind. Aber wir haben unseren Jungen. Was nützt einem der Wohlstand, wenn man niemanden hat, den man liebt?«
Ihre Worte gaben Anne zu denken. Sie hatte Mrs Merrill nie zuvor gesehen und würde sie wohl auch nie wieder sehen, aber sie blieb ihr in Erinnerung als eine Frau, die den Sinn des Lebens verstanden hat: Man ist nie arm, solange man jemanden hat, den man liebt.
Die Herrlichkeit des Tages war dahin. Anne hatte Teddy
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