Anne in Windy Willows
mitgebracht. Kurz darauf starb sie und ich habe meine Halbschwester danach nie wieder gesehen. Als ich später hier auf die Insel herüberkam, hatte ich dann sowieso keine Verbindung mehr zu ihr. Sie sind also mein Neffe, der Vetter von meinem kleinen Kerlchen.« Er starrte Lewis fassungslos an.
Was für eine Überraschung für jemanden, der sich allein auf der Welt glaubte! Lewis und Anne verbrachten den ganzen Abend bei Mr Armstrong und lernten ihn dabei als einen gebildeten, intelligenten Mann kennen. Beide schlossen ihn rasch ins Herz und der unfreundliche Empfang war längst vergessen. »Der Kleine wusste schon, warum er seinen Vater so sehr liebte«, bemerkte Anne, als sie schließlich am späten Abend zurückfuhren.
Als Lewis am folgenden Wochenende seinen Onkel besuchte, schlug der ihm gleich etwas vor: »Was halten Sie davon, bei mir zu wohnen? Sie sind doch mein Neffe und ich werde für Sie sorgen wie für meinen eigenen Sohn. Sie sind genauso allein auf der Welt wie ich, und wenn ich weiterhin alleine hier leben muss, werde ich wieder hartherzig und verbittert. Bitte, helfen Sie mir, das Versprechen einzulösen, das ich meinem Kerlchen gegeben habe. Sein Platz ist leer. Er ist frei für Sie.« Erwartungsvoll sah er Lewis an.
»Danke, Onkel. Ich komme zu dir«, sagte Lewis einfach und streckte ihm seine Hand entgegen.
»Aber bring ab und zu deine Lehrerin mit«, setzte Mr Armstrong noch hinzu. »Teddy hat damals gesagt, >Papa, ich hätte nie gedacht, dass es mir gefällt, wenn mir jemand anders außer dir einen Kuss gibt. Aber über ihren Kuss habe ich mich gefreut. In ihren Augen lag so was Gewisses!<«
Kapitel 4
»Das alte Thermometer auf der Veranda zeigt null Grad an und das neue neben der Tür zehn Grad plus«, stellte Anne an einem kalten Dezemberabend fest, »soll ich jetzt meinen Muff mitnehmen oder nicht?«
»Sie halten sich besser an das alte Thermometer«, sagte Rebecca Dew, die gerade den Ofen heizte, »es kennt sich aus mit unserem Klima. Was treibt Sie denn eigentlich jetzt noch hinaus in diese Kälte?«
»Ich will Katherine Brooke besuchen, um sie zu fragen, ob sie Weihnachten mit mir auf Green Gables verbringen will.«
»Sie wollen sich wohl unbedingt die Ferien verderben?«, meinte Rebecca Dew trocken. »Die würde doch selbst die Engel anschnauzen. Das Schlimme ist, dass sie auch noch stolz ist auf ihre schlechten Manieren. Wahrscheinlich bildet sie sich ein, damit Eindruck zu schinden.«
»Vom Verstand her stimme ich mit Ihnen überein«, gab Anne zu, »aber nicht vom Gefühl her. Irgendetwas sagt mir, dass Katherine Brooke im Grunde ein scheues, unglückliches Kind ist. Hier in Summerside komme ich ihr einfach nicht näher, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie auf Green Gables auftaut.« Anne wickelte sich fest in ihren Schal.
»Sie wird nicht mitkommen«, sagte Rebecca Dew in weiser Voraussicht. »Sie wird die Einladung eher noch als Beleidigung auffassen. In dem Jahr, bevor Sie zu uns kamen, wollten wir sie zu Weihnachten einladen, aber sie sagte bloß: >Nein, danke! Wenn ich etwas hasse, dann das Wort Weihnachten.<«
»Wie schrecklich - Weihnachten hassen! Es muss etwas mit ihr geschehen, Rebecca Dew. Ich werde hingehen und sie fragen und ich habe so ein Gefühl in den Fingerspitzen, als ob sie zusagt.« Anne knöpfte sich energisch den Mantel zu.
»Na ja, ich muss zugeben, Sie verstehen es, die Leute um den kleinen Finger zu wickeln«, grinste Rebecca. »Ich brauche bloß an die Pringles zu denken. Aber beneiden tue ich Sie nicht um Ihr Weihnachtsfest.«
So zuversichtlich, wie sie tat, war Anne keineswegs. Katherine Brooke war in letzter Zeit besonders unerträglich gewesen. Die halbe Nacht hatte Anne wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen, ob sie sie nun einladen sollte oder nicht, bis sie sich schließlich dafür entschied.
Als Anne in der Temple Street angekommen war, wurde sie von Katherines Wirtin ins Wohnzimmer geführt.
»Ich sage ihr Bescheid«, sagte sie, als Anne nach Miss Brooke fragte. »Aber ob sie runterkommt, weiß ich nicht. Sie ist eingeschnappt, weil ich ihr erzählt habe, dass Mrs Rawlins gesagt hat, sie ziehe sich für eine Lehrerin an der Summerside High-School unmöglich an. Da war es mal wieder aus mit ihr.«
»Ich finde, das hätten Sie ihr auch nicht sagen sollen«, erwiderte Anne vorwurfsvoll. »Wissen Sie, dass der Schulinspektor sie für eine der besten Lehrerinnen hält?«
»Ja, das habe ich gehört. Aber sie ist schon hochnäsig
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