Anne in Windy Willows
Apfeltasche.
»Nein. Meine Mutter ist tot. Mrs Merill hat einmal erzählt, sie wäre im Himmel, aber mein Papa sagt, es gibt keinen Himmel, und er muss es schließlich wissen. Mein Papa ist nämlich furchtbar klug. Er hat tausende von Büchern gelesen. Wenn ich groß bin, möchte ich genauso werden wie er - außer, dass ich den Leuten was zu essen gebe, wenn sie Hunger haben. Mein Papa geht den Leuten aus den Weg, wissen Sie, aber zu mir ist er furchtbar lieb.« Er guckte treuherzig von einem zum ändern.
»Gehst du nicht zur Schule?«, fragte Lewis und putzte sich die Krümel vom Hemd.
»Nein, mein Papa gibt mir Unterricht. Nächstes Jahr soll ich aber zur Schule gehen. Ich glaube, das wird mir gefallen, weil ich dann mit anderen Jungen spielen kann. Ich hab natürlich Carlo und Papa spielt auch mit mir, sooft er kann. Aber er hat nicht immer Zeit, er muss die ganze Arbeit auf dem Hof machen und noch das Haus in Ordnung halten. Deswegen stört ihn, wenn jemand kommt. Aber wenn ich größer bin, helfe ich ihm, wo ich kann, damit er mehr Zeit hat, höflich zu den Leuten zu sein.«
»Die Apfeltasche war wirklich gut, Kleiner«, sagte Lewis.
Der Kleine schaute ihn mit leuchtenden Augen an. »Das freut mich sehr«, sagte er.
»Möchtest du vielleicht, dass wir ein Foto von dir machen?«, fragte Anne.
»Au ja!«, rief er begeistert. »Darf Carlo auch mit drauf?«
»Klar, du und Carlo.«
Der Kleine stellte sich neben seinen Hund und legte den Arm um dessen breiten, kuscheligen Nacken. Beide machten ein freundliches Gesicht und Lewis schoss sein letztes Foto. »Wenn es was geworden ist, schicke ich dir einen Abzug«, versprach er. »Was für eine Adresse soll ich draufschreiben?«
»Teddy Armstrong, bei Mr James Armstrong, Glencove Road«, sagte der Kleine. »Ach, war das schön, wenn die Post mir was bringen würde! Ich werde Papa kein Wort davon sagen, damit es eine Überraschung wird.«
»Also, in zwei bis drei Wochen kannst du mit deinem Päckchen rechnen«, meinte Lewis, während sie sich verabschiedeten. Anne bückte sich und gab dem Jungen einen Kuss. Was für ein netter Fratz!
An der Wegbiegung sahen sie sich noch einmal nach ihm um. Er stand immer noch da mit seinem Hund und winkte ihnen eifrig nach.
Rebecca Dew wusste natürlich über die Armstrongs Bescheid.
»James Armstrongs Frau ist vor fünf Jahren gestorben«, erzählte sie Anne abends. »Er hat ihren Tod nie verwunden, wenn er auch immer schon als Einsiedler galt. Er liebte seine Frau abgöttisch, sie war zwanzig Jahre jünger als er. Ihr Tod war ein Schock für ihn. Er hat sich seitdem völlig verändert und ist launenhaft und mürrisch. Er wollte noch nicht mal eine Haushälterin, sondern bestand darauf, für Haus und Kind allein zu sorgen.«
»Aber das ist doch kein Leben für ein Kind«, fand Tante Chatty. »Sein Vater geht ja nie mit ihm in die Kirche oder sonstwohin, wo er Leute treffen könnte.«
»Aber man sagt, er liebt den Kleinen über alles«, murmelte Tante Kate leise.
Kapitel 3
Erst drei Wochen später fand Lewis die Zeit, seine Fotos zu entwickeln. Als er dann das erste Mal in Windy Willows zum Essen kam, brachte er sie mit. Das alte Bauernhaus und das »Kerlchen« waren gut getroffen. Teddy sah auf dem Bild aus »wie das Leben selbst«, meinte Rebecca Dew.
»Ich finde, er sieht dir irgendwie ähnlich, Lewis!«, stellte Anne nach einiger Zeit fest.
»Ja, das stimmt«, bestätigte Rebecca Dew, als sie das Foto näher betrachtete. »Ich fand gleich, dass er mit irgendjemandem Ähnlichkeit hat, aber ich kam nicht sofort darauf.«
»Die Augen ... die Stirn ... überhaupt der ganze Gesichtsausdruck, genau wie du, Lewis!«, sagte Anne verblüfft.
»Sollte ich wirklich mal so nett ausgesehen haben?«, wunderte sich Lewis schulterzuckend. »Ich hab zu Hause ein Bild von mir, auf dem ich ungefähr sieben Jahre alt bin. Ich werde es mal suchen und mit dem hier vergleichen. Sie werden bestimmt lachen, Miss Shirley. Ich habe darauf lange Locken und einen Spitzenkragen und stehe so steif da, als hätte ich ein Lineal verschluckt. Falls diese beiden Fotos wirklich ähnlich sein sollten, wäre es der reine Zufall. Der Kleine kann doch unmöglich mit mir verwandt sein. Ich habe gar keine Verwandten auf der Insel - jetzt nicht mehr.« Er packte die Fotos wieder ein.
»Wo sind Sie denn geboren?«, fragte Tante Kate neugierig. »In New Brunswick. Vater und Mutter starben, als ich zehn war. Ich kam dann zu einer Kusine von Mutter, die hier
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