Anne Rice - Pandora
seinen Kaisern und Königen, seinen Richtern und Senatoren und seinen Philosophen und Priestern – ausgelöscht worden.
11
Nun, David, da hast du die Geschichte.
Ich könnte in diesem Plautus-Terentius-Komödienstil noch seitenweise fortfahren. Ich könnte mit Shakespeares Viel Lärm um Nichts wetteifern.
Aber hier hast du die wesentliche Geschichte. Es ist das, was hinter der schnoddrigen Kurzversion in Der Fürst der Finsternis steckt, die von Marius oder Lestat –
wer weiß das schon – in ihre endgültige triviale Form gebracht wurde.
Ich möchte dir die Punkte näher erläutern, die mir heilig sind und immer noch in meinem Herzen brennen, gleichgültig, wie leicht sie von anderen beiseite geschoben wurden.
Und die Geschichte unserer Trennung handelt nicht nur von Unstimmigkeiten, es könnte durchaus eine Lehre darin enthalten sein.
Marius lehrte mich zu jagen und nur die Bösen zu fangen und schmerzlos zu töten, indem ich die Seele des Opfers in betörende Bilder einhüllte oder ihr half, dem eigenen Tod durch eine Flut von Traumgespinsten Glanz zu verleihen, Traumgespinsten, über die ich nicht urteilen, die ich mir nur einverleiben musste, wie ich mir das Blut des Opfers einverleibte. All das erfordert keine detaillierte Beschreibung.
Wir waren, gemessen an unserer Kraft, ebenbürtig.
Wenn irgendein verbrannter und skrupellos ehrgeiziger Bluttrinker seinen Weg nach Antiochia fand – was nur ein paar Mal und dann gar nicht mehr passierte –, exekutier-ten wir den Bittsteller gemeinsam. Sie alle hatten eine monströse Mentalität, die uns kaum verständlich war, und sie spürten die Königin auf wie der Schakal das Aas.
Ihretwegen hatten wir jedenfalls nie eine Auseinandersetzung.
Wir lasen einander häufig laut vor und lachten zusammen über Petronius’ Satyricon, und wir vergossen gemeinsame Tränen und vereinigten uns im Lachen, als wir die bitteren Satiren des Juvenal lasen. Der Strom neuer satirischer und geschichtlicher Schriften, die aus Rom und Alexandria den Weg hierher fanden, nahm kein En-de.
Aber es gab etwas, das auf ewig trennend zwischen Marius und mir stand.
Unsere Liebe wurde größer, doch in gleichem Maße nahm unser ständiger Streit zu, und Streit wurde bald zu einem gefährlichen Bindemittel unserer Beziehung.
Im Verlauf der Jahre hütete Marius seine zerbrechliche Rationalität wie eine Vestalin die heilige Flamme. Sobald überschwängliche Empfindungen in mir aufkeimten, war er zur Stelle, um mich an den Schultern zu packen und mir unmissverständlich klar zu machen, dass das irrational sei. Irrational, irrational, irrational!!
Als im zweiten Jahrhundert das schreckliche Erdbeben Antiochia heimsuchte, blieben wir unverletzt. Ich wagte es, das als göttliche Fügung zu bezeichnen. Das versetzte Marius in Wut, und er konnte gar nicht schnell genug darauf hinweisen, dass diese gleiche göttliche Einmischung auch den römischen Kaiser Trajan verschont hatte, der zu dem Zeitpunkt in der Stadt gewesen war. Wie ich denn das erklären wolle?
Nur zur Erinnerung: Antiochia wurde bald wieder auf-gebaut. Die Märkte florierten, noch mehr Sklaven strömten in die Stadt, nichts konnte die Karawanen auf ihrem Weg zu den Schiffen aufhalten und umgekehrt die Schiffe, die zu den Karawanen unterwegs waren.
Doch schon lange vor diesem Erdbeben waren wir so weit, dass wir uns nachts fast geschlagen hätten.
Wenn ich Stunden bei dem königlichen Paar zubrachte, kam Marius unausweichlich, um mich zu holen und mich wieder zur Vernunft zu bringen. Er erklärte, wenn ich in diesem Zustand sei, könne er nicht friedlich sitzen und lesen. Er könne nicht denken, wenn er wisse, dass ich dort unten dem Wahnsinn bereitwillig Tür und Tor öffnete.
Warum, wollte ich wissen, musste seine Dominanz sich bis in den letzten Winkel unseres Anwesens erstrecken?
Und wieso war ich ihm kräftemäßig ebenbürtig, wenn ein alter, verbrannter Bluttrinker in der Stadt auftauchte und mordete, so dass wir ihn beseitigen mussten?
»Und geistig sind wir uns nicht ebenbürtig?«, fragte ich.
»Eine solche Frage kannst auch nur du stellen!«, sagte er dann sofort.
Die Mutter und der Vater rührten sich natürlich nie wieder und sprachen auch nicht. Keine Blutträume und keine göttliche Anweisung gelangten mehr zu mir. Daran erinnerte Marius mich nur hin und wieder. Und nach einer ganzen Zeit erlaubte er mir, ihm in dem Heiligtum zur Hand zu gehen, damit ich das volle Ausmaß ihrer sprach-losen, scheinbar
Weitere Kostenlose Bücher