Anne Rice - Pandora
Gesicht.
Ich fragte mich müde, ob ich mit fünfunddreißig schon so alt war, dass ich Jugend mit Schönheit gleichsetzte.
Er sagte unter Tränen: »Auch meine Familie wurde verraten. Meine Mutter sorgte dafür, dass ich entkommen konnte.«
»Wem verdanken wir dieses Verhängnis, das uns beide eint?«, fragte ich. Ich legte meine Hände um sein tränen-feuchtes Gesicht. Er hatte noch einen kindlich weichen Mund, aber die Bartstoppeln auf seinen Wangen kratz-ten. Seine Schultern waren breit und kräftig, er trug nur eine leichte, einfache Tunika. Warum fror er nicht hier draußen auf dem Wasser? Aber vielleicht war ihm ja kalt.
Er schüttelte den Kopf. Noch war er hübsch; später würde man ihn gut aussehend nennen; sein dunkles Haar kräuselte sich gefällig. Er schämte sich weder seiner Tränen, noch entschuldigte er sich dafür.
»Meine Mutter blieb nur noch am Leben, um mir alles erklären zu können. Sie lag keuchend im Todeskampf, bis ich kam. Als die delatores meinen Vater beschuldig-ten, gegen den Kaiser eine Verschwörung angezettelt zu haben, hat mein Vater gelacht. Er hat tatsächlich gelacht.
Sie hatten ihm vorgeworfen, mit Germanicus unter einer Decke zu stecken! Meine Mutter wollte nicht eher sterben, bis sie mir das erzählt hatte. Sie sagte, das Einzige, was mein Vater getan habe, sei, dass er mit anderen Männern darüber gesprochen habe, dass er wieder unter Germanicus dienen werde, wenn Truppen in den Norden geschickt würden.«
Ich nickte matt. »Ich verstehe. Meine Brüder haben wahrscheinlich das Gleiche gesagt. Und Germanicus ist der Erbe des Kaisers und Imperium Malus des Ostens.
Und doch gilt es als Verrat, darüber zu sprechen, dass man Rom unter einem blendenden Heerführer dienen will.«
Ich wandte mich zum Gehen. Dass ich ihn verstand, bedeutete keinen Trost für mich.
»Wir bringen euch zu Freunden, aber nicht in die gleiche Stadt«, sagte Jakob, »mehr sagen wir besser nicht.«
»Lass mich nicht allein«, bat der Jüngling, »nicht heute Nacht.« »Gut«, sagte ich. Ich nahm ihn mit in meine Kabine und schloss die Tür, indem ich Jakob, der alles mit der Skrupelhaftigkeit eines Tugendwächters beobachtete, höflich zunickte.
»Was willst du?«, fragte ich.
Der Junge starrte mich an. Er schüttelte den Kopf. Er streckte die Hände aus, drängte sich an mich und küsste mich. Wir gaben uns wilden Küssen hin.
Ich nahm meinen Umhang ab und sank mit ihm auf das Bett. Er war ein ganzer Mann, Kindergesicht hin, Kindergesicht her.
Und als ich den Augenblick der Ekstase erlebte, was bei seiner fantastischen Vitalität nicht schwer war, schmeckte ich Blut. Ich war die Bluttrinkerin aus meinem Traum. Ich wurde ganz schlaff, doch das machte nichts.
Er hatte alles, was er brauchte, um die Rituale in seiner Befriedigung gipfeln zu lassen.
»Du bist eine Göttin«, sagte er und richtete sich auf.
»Nein«, hauchte ich. Vor meinen Augen erstand der Traum. Ich hörte den Wind auf dem Sand. Ich roch den Fluss. »Ich bin ein Gott … ein Gott, der Blut trinkt.«
Wir vollzogen die Rituale der Liebe, bis wir völlig erschöpft waren.
»Sei in Gegenwart unserer jüdischen Gastgeber vorsichtig, und benimm dich anständig«, ermahnte ich den Jungen. »Sie hätten hierfür niemals Verständnis.«
Er nickte. »Ich bete dich an.«
»Nicht nötig. Wie heißt du eigentlich?«
»Marcellus.«
»Schön, Marcellus, leg dich nun schlafen.«
Marcellus und ich amüsierten uns von da an Nacht für Nacht, bis endlich der berühmte Leuchtturm von Pharos in Sicht kam und wir wussten, dass wir in Ägypten ange-kommen waren.
Es war offensichtlich, dass Marcellus in Alexandria bleiben sollte. Er erklärte mir, dass seine Großmutter mütterlicherseits noch lebe; sie und ihre Familie waren Griechen.
»Erzähl mir besser nicht so viel, geh einfach«, sagte ich zu ihm. »Und sei klug und vorsichtig.«
Er flehte mich an, mit ihm zu kommen. Er sagte, er ha-be sich in mich verliebt, er wolle mich heiraten. Es sei ihm egal, wenn ich keine Kinder bekommen könnte. Es sei ihm egal, dass ich fünfunddreißig sei. Ich lachte leise, mitleidig.
Jakob betrachtete die Szene mit gesenkten Augen. Und David wandte den Blick ab.
Eine ganze Menge Koffer folgten Marcellus in die Stadt.
»Nun«, wandte ich mich an Jakob, »wirst du mir nun sagen, wohin ihr mich bringt? Ich hätte vielleicht auch ein paar eigene Vorstellungen in dieser Sache, obwohl ich meine Zweifel habe, dass man den Plan meines Vaters noch
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