Anne Rice - Pandora
nicht rauskommt, wenn ihr mich braucht, dann kommt zurück.«
»Wir haben unsere Leute hier«, beruhigte mich Jakob.
»Von ganzem Herzen Dank für den herrlichen Rubin, Pandora. Ihr werdet durchkommen. Geht ins Haus zu-rück, verriegelt die Türen.«
Ich schaffte es zwar bis zu dem Stuhl, aber nicht, mich niederzusetzen. Stattdessen sackte ich davor zusammen und betete: »Lares familiares … Ihr Hausgeister, ich muss euren Altar finden. Heißt mich willkommen, bitte, ich will niemandem Böses. Ich will euren Altar mit Blumen überhäufen und das Feuer für euch entfachen. Habt Nachsicht. Lasst mich … ruhen.«
Doch ich saß untätig und mit kraftlosen Händen im Schock auf dem Boden, stundenlang, während das Tageslicht verblasste. Während das fremde kleine Haus allmählich dunkel wurde. Ein Bluttraum begann, aber ich wollte ihn nicht. Nicht diesen fremdartigen Tempel! Nicht den Altar, nein! Nicht das Blut! Ich verbannte alles und stellte mir stattdessen vor, ich wäre zu Hause.
Ich war ein kleines Mädchen. Träum davon, befahl ich mir, wie du den Erzählungen deines großen Bruders Antonius lauschst, er spricht von dem Krieg im Norden, als sie die verrückten Germanen zurückgetrieben haben! Er hatte Germanicus so geliebt. Genau wie meine anderen Brüder auch. Lucius, der Jüngste, er war von Natur aus sehr labil. Es brach mir das Herz, mir vorstellen zu müssen, dass er die Soldaten, die ihn niederschlugen, weinend um Gnade gebeten hat.
Das Imperium war die Welt. Alles, was jenseits davon lag, war Chaos, Elend, Kampf und Unfriede. Ich war ein Soldat. Ich konnte kämpfen. Ich träumte, ich legte meine Rüstung an. Mein Bruder sagte: »Ich bin so erleichtert festzustellen, dass du ein Mann bist. Ich habe es mir schon immer gedacht.«
Ich wachte nicht vor dem nächsten Morgen auf.
Und dann lernte ich Trauer und Schmerz kennen wie nie je zuvor.
Notabene: weil mir der ganze Widersinn des Schicksals, des Glücks und der Natur deutlicher bewusst wurde, als ein Mensch ertragen kann. Und vielleicht gibt ja diese Beschreibung, so kurz sie auch ist, einem anderen Menschen Trost. Das Schlimmste braucht seine Zeit, um zu kommen, dann aber auch, um wieder zu vergehen.
Die Wahrheit ist, man kann niemanden darauf vorberei-ten noch durch die Sprache Verständnis dafür vermitteln.
Man muss es erlebt haben. Und das wünsche ich niemandem auf der ganzen Welt.
Ich war allein. Ich lief in dem kleinen Haus von Zimmer zu Zimmer, schlug mit den Fäusten gegen die Wände, weinte mit zusammengebissenen Zähnen und drehte und wand mich. Die Mutter Isis gab es nicht.
Auch Götter gab es nicht. Die Philosophen waren Dummköpfe! Die Dichter sprachen Lügen.
Ich schluchzte und zerrte an meinen Haaren; ich zerriss wie selbstverständlich meine Kleidung, als wäre das ein neuer Brauch. Ich stieß Tische und Stühle um.
Manchmal spürte ich eine große Heiterkeit, eine Befrei-ung von allen Falschheiten und Konventionen, allen Verhältnissen, die Körper oder Seele in Fesseln legen können! Und dann breitete sich die Ehrfurcht gebietende Aura dieser Freiheit um mich aus, als existierte das Haus nicht, als kennte die Dunkelheit keine Mauern.
Drei Tage und Nächte verbrachte ich in dieser Seelenqual.
Ich vergaß zu essen. Ich vergaß zu trinken.
Nicht ein einziges Mal zündete ich ein Licht an. Der Mond, der fast voll war, spendete genügend Helligkeit in diesem bedeutungslosen Labyrinth kleiner, ausgemalter Kammern.
Der Schlaf schien mich für immer verlassen zu haben.
Mein Herz raste. Die Glieder verkrampften sich, dann erschlafften sie, nur um sich wieder zu verkrampfen.
Manchmal streckte ich mich vorn im Hof auf der feuch-ten, guten Erde aus – an meines Vaters statt, weil niemand seinen toten Körper, ehe er begraben wurde, auf die feuchte, gute Erde gebettet hatte, wie es gleich nach seinem Tod hätte getan werden müssen.
Mir wurde plötzlich klar, warum diese Schande – dass sein von Wunden übersäter Körper nicht auf dem Erdboden niedergelegt worden war – so schwer wiegend war.
Ich erfasste die Bedeutung dieser Unterlassung, wie noch kaum jemand die Bedeutung von irgendetwas erkannt hat. Es war von äußerster Wichtigkeit, weil es überhaupt nicht zählte!
Lebe, Lydia.
Ich betrachtete die kleinen Laubbäume des Gartens.
Ich empfand eine merkwürdige Dankbarkeit dafür, dass ich meine menschlichen Augen in dieser Dunkelheit auf Erden lange genug geöffnet hatte, um solche Dinge sehen zu können. Ich
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