Anne Rice - Pandora
die auf den Marmorboden auftrafen, den Fall eines einzelnen Blattes. Ich drehte mich um und sah es, wie es zusammengerollt auf den Steinen schau-kelte, dieses winzige Blatt. Ich hörte den Luftzug unter der goldenen, baldachinartigen Decke. Und die Lampen hatten Flammenzungen, mit denen sie sangen.
Die Welt war ein gewobenes Lied, ein Gobelin des Gesangs. Die vielfarbigen Mosaiken glitzerten, verloren dann jede Form, dann sogar das Muster. Die Wände lö-
sten sich in Wolken farbigen Nebels auf, die uns einluden, auf ewig darin umherzustreifen.
Und da thronte sie, die Königin des Himmels, und herrschte über alles in erhabener, gelassener Stille.
Alles Sehnen meines kindlichen Herzens fand Erfüllung. »Sie lebt, sie ist wirklich, sie herrscht über die Erde und den Himmel.«
Der König und die Königin. Sie rührten sich nicht. Ihre Augen nahmen nichts wahr. Sie sahen uns nicht an. Sie sahen auch das verkohlte Wesen nicht an, als es sich immer näher an ihren Thron heranschob.
Die Arme des königlichen Paares waren verdeckt von zahlreichen gravierten und gewundenen Armspangen.
Ihre Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Das war die Haltung vieler ägyptischer Statuen. Aber es hatte nie ein Standbild gegeben, das ihnen glich.
»Die Krone, sie will ihre Krone haben«, sagte ich. Mit erstaunlicher Kraft ging ich auf sie zu.
Marius nahm meine Hand. Gespannt beobachtete er, wie der Verbrannte sich vorwärts bewegte.
»Sie war schon vor all jenen Kronen«, sagte Marius,
»sie bedeuten ihr nichts.«
Schon der Gedanke zerging mir mit der Süße einer Traube auf der Zunge. Natürlich, sie war schon vorher da. In meinen Träumen hatte sie auch keine Krone getragen. Sie war in Sicherheit. Marius wachte über sie.
»Meine Königin«, sagte Marius hinter mir. »Du hast hier einen Bittsteller. Es ist Akbar aus dem Fernen Osten. Er würde gern das königliche Blut trinken. Was ist dein Wille, Mutter?«
Seine Stimme war so ruhig. Er fürchtete nichts.
»Mutter Isis, lass mich trinken!«, rief die Kreatur. Der Verbrannte stand auf, warf die Arme in die Höhe und schuf in einem Tanz eine Vision seines früheren Selbst.
An seinem Gürtel hingen Totenschädel. Von seinem Hals baumelte eine Kette aus schwärzlichen menschlichen Fingern. Eine weitere aus menschlichen Ohren! Es war grausig und Ekel erregend, doch er schien das für verführerisch und bezwingend zu halten. Sehr bald verließ ihn die Vision. Der Gott aus dem fernen Land lag auf den Knien.
»Ich bin dein Diener seit jeher! Nur die Bösen habe ich getötet, wie du es befohlen hast. Nie habe ich aufgehört, dir zu huldigen.«
Wie zerbrechlich und unbedeutend dieser Flehende wirkte, so abstoßend, so leicht aus ihrer Gegenwart zu entfernen. Ich sah den König Osiris an, der ebenso fern und teilnahmslos wirkte wie die Königin.
»Marius«, sagte ich, »das Korn für Osiris; verlangt er nicht nach dem Korn? Er ist der Gott des Korns.«
Ich hatte in mir immer noch die Bilder der Prozessionen in Rom, der singenden Menge, die Opfergaben trug.
»Nein, er verlangt nicht danach«, beruhigte Marius mich. Er legte mir die Hand auf die Schulter.
»Sie sind echt, sie sind wirklich«, rief ich aus. »Alles ist wirklich. Alles ist anders geworden. Wir sind erlöst.«
Der Verbrannte drehte sich zu mir um und starrte mich wütend an. Doch ich war jenseits aller Vernunft. Er wandte sich wieder der Königin zu und streckte die Hand nach ihrem Fuß aus.
Wie ihre Zehennägel mit dem goldenen Fleisch darunter im Licht blitzten. Doch sie war stumm wie ein Stein, und so war der kronlose König, ohne Verständnis oder Macht erkennen zu lassen.
Ganz plötzlich sprang die Kreatur auf und wollte sich auf den Hals der Königin stürzen!
Ich schrie.
»Schamlos, verächtlich.«
Blitzschnell hob sich der starre Arm der Königin, ihre Hand umfasste den Schädel des Geschöpfs und zer-quetschte ihn, das Blut ergoss sich über sie, als das Ungeheuer einen letzten rauen Schrei um Gnade ausstieß.
Sie packte seinen Körper, der über ihre Körpermitte sank, und schleuderte ihn durch die Luft, so dass seine Glieder aus den Gelenken rissen und wie hölzerne Stan-gen zu Boden krachten.
Ein heftiger Windstoß erfasste die Überreste und fegte sie auf einen Haufen, während gleichzeitig eine Lampe von ihrem dreibeinigen Ständer fiel und ihr brennendes Öl darüber goss.
»Sein Herz, sieh«, sagte ich, »ich kann sein Herz sehen. Es schlägt noch.«
Doch schon bald wurde das Herz vom
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