Annebelle - sTdH 2
hinausposaunt.«
»Das hat er
auch nicht getan. Wir alle übersehen die Dienerschaft und vergessen, daß sie
genauso klatscht wie wir und manchmal sogar die üble Angewohnheit hat, an Türen
zu lauschen.«
»Himmel!«
keuchte der Vikar. »Wenn meine Bella den Mund aufmacht und irgend etwas sagt,
woraus hervorgeht, daß sie ihn aus anderen Gründen als aus Liebe
geheiratet hat, dann, ... tja, dann wird er sie verlassen. Und sie endet als
eine dieser verlorenen Halbwitwen.«
Der Vikar
zog eine Kapseluhr aus der geräumigen Tasche seiner Weste und starrte darauf.
Das Hochzeitsessen hatte um drei begonnen. Jetzt war es zehn Uhr abends.
»Wann,
glaubst du, wird er versuchen, sie zu besteigen?«
»Wirklich,
Charles«, sagte der Squire schaudernd, »für einen Geistlichen hast du eine
sehr vulgäre Sprache. Wahrscheinlich haben zu viele mit Jagen verbrachte
Stunden deine Ausdrucksweise verrohen lassen. So zu reden, und das von deiner
eigenen Tochter!«
»Also, wann?« fragte der Vikar ungeduldig.
»Ungefähr
jetzt.«
»Und ...?«
»Und wenn
ihm nicht jedes Feingefühl abgeht, wird er bald wie eine Kanonenkugel aus
seinem Haus geschossen kommen und sich fürchterlich betrinken.«
Der Vikar
seufzte und stocherte versunken mit seinem Stiefel im Feuer.
Der Squire
hüstelte leise. »Wir könnten natürlich die Kutsche nehmen und draußen vor dem
Haus warten ... Ein guter Rat von zwei älteren Herren, oder?«
»Vermutlich
wird er mich erschießen«, sagte der Vikar düster. »Vielleicht. Komm, gehen
wir.«
Sechstes Kapitel
Der
Marquis von
Brabington hatte das Stadthaus in der Conduit Street ziemlich unverändert so
gelassen, wie es zu Lebzeiten des verstorbenen Marquis ausgesehen hatte.
Es war hoch
und schmal und innen geräumiger, als es von außen wirkte. Doch die Räume waren
traurig und düster. Zwar schmückten zahlreiche Landschaftsbilder die Wände,
aber ihre Leinwände bedurften so dringend der Reinigung, daß oft schwer zu
sagen war, welchen Teil Englands sie darstellen sollten. Annabelle fühlte sich
beklommen, ja fast erdrückt von der Düsternis und Stille der Zimmer. Die Dienerschaft
war alt, da der Marquis nicht das Herz besaß, einen von ihnen zu entlassen.
Annabelle hatte das Haus bereits gesehen – in Gesellschaft ihrer Mutter, Lady
Godolphines und Minervas –, doch der Marquis führte sie nochmals herum,
entschuldigte sich für die Ungepflegtheit dieser Junggesellenbleibe und
drängte sie, alle Veränderungen
vorzunehmen, die sie wünschte.
Obwohl er
warmherzig, zärtlich und liebevoll war, trottete Annabelle hinter ihm her wie
ein verdrossenes Schulkind, und er stellte erschrocken fest, daß er ihr
gegenüber zum erstenmal Gereiztheit empfand.
Dann machte
er sich deswegen Vorwürfe. Schließlich war sie noch sehr jung und gerade erst
von ihrer Familie getrennt worden. Hätte er sie in die Arme genommen oder auf
die Freuden der bevorstehenden Nacht angespielt, dann wäre Annabelle vielleicht
in Tränen ausgebrochen und hätte ihm ihre Ängste gebeichtet. Weil er aber ganz
unbefangen war und zu erwarten schien, daß sie sich wohl fühlte, verlor
sie den Mut.
Sie tranken
ein Glas Wein und aßen einige Biskuits, ehe sie sich für die Nacht zurückzogen.
Das Hausmädchen Betty war zur Kammerzofe der neuen Marquise befördert worden.
Sie war so damit beschäftigt, vor dem Küchenpersonal mit dieser Ernennung zu
prahlen, daß sie beinahe vergessen hätte, ihrer Herrin aufzuwarten und sie zum
Schlafengehen vorzubereiten.
Annabelle
saß da wie eine Statue, während Betty ihr das Haar ausbürstete. Sie sah so
verloren und elend aus, daß Betty schließlich Mitleid hatte und herausplatzte:
»Oh, Miss Bella, wenn es irgend etwas gibt, was Sie wissen möchten, was Ihre
Mama Ihnen nicht gesagt hat ...«
Doch
Annabelle sagte nur ärgerlich: »Du mußt mich Mylady nennen, Betty, und
versuchen, nicht so vertraulich zu sein.« Betty warf den Kopf in den Nacken und
verließ schweigend das Zimmer, um Myladys Nachthemd bereitzulegen.
Endlich war
das Mädchen gegangen; Annabelle kletterte ins Bett und zitterte trotz der Wärme
des Feuers. Sie bewohnte eine Zimmerflucht neben der ihres Gatten – ihres
Gatten, des fremden Mannes.
Ihre
Gedanken bewegten sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig. An der Oberfläche war
sie gereizt, weil Betty noch ungeübt war; sie hätte das Nachthemd am Feuer
wärmen und mit einer Wärmepfanne über die Laken streichen sollen. Gleichzeitig
sehnte sich Annabelle nach Minerva; sie
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