Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
sein.«
Sie hob den Kopf von der Rückenlehne und sah Halenius fragend an. Er hielt ihr einen weiteren Ausdruck hin.
»Viele Afrikaner leben in Hütten, aber nicht alle. Hier ist Fridas IBAN -Kontonummer und der BIC -Code der Bank.«
Sie ergriff das Blatt, stand auf, nahm ihren Laptop und ging ins Kinderzimmer. Auslandsüberweisungen konnte man über die Onlinebanking-Seite ihrer Bank erledigen.
Sie überwies das gesamte Geld auf ihrem Konto, 9 452 890 schwedische Kronen, an die Kenya Commercial Bank, Kontoinhaber Frida Arokodare. Setzte alle Nummern und Adressen und Codes ein, wählte 462 (was für Übrige Dienstleistungen stand) für die Finanzaufsichtsbehörde, bestätigte die Transaktionsgebühr und klickte auf »Ausführen«. Das Geld verschwand augenblicklich von ihrem Sparkonto. Der Saldo leuchtete ihr in roten Ziffern entgegen: 0,00 Kronen.
Sie blinzelte auf den Bildschirm und versuchte sich vorzustellen, wie ihr abgebranntes Haus durch den Cyberspace wirbelte, schwebende Einsen und Nullen im Elektrosmog. Sie horchte in sich hinein, um irgendein Gefühl rund um die leeren Ziffern aufzuspüren, aber da war nichts.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Halenius von der Tür her.
»Gut«, sagte Annika und ging aus dem Zimmer.
Die ganze Prozedur hatte keine zehn Minuten gedauert.
Sie schlief eine Weile auf Ellens Bett, von Träumen verfolgt. Als sie aufwachte, war sie unruhig und verschwitzt. Sie stand auf, duschte lange und ziemlich kalt und kochte etwas für sich und Halenius (vegetarische Nudelsoße aus frischen Tomaten, Paprika, Zwiebeln, Knoblauch, Pesto und Honig, dazu Fettucine).
Danach schloss sie sich im Kinderzimmer ein und schrieb an ihrer Dokumentation, filmte sich (auf Kalles Bett diesmal) und ging dann mit schweren Beinen ins Wohnzimmer und sank aufs Sofa.
Halenius saß in ihrem Sessel, einen Packen Zeitungen auf dem Schoß. Er wedelte mit der obersten.
»Hier ist ein richtig guter Artikel über Kibera drin«, sagte er. »Das ist der Distrikt mitten in Nairobi, von dem behauptet wird, er sei der größte Slum der Welt, aber das hat sich geändert.«
»Kann ich dich etwas fragen?«, sagte sie und beobachtete ihn im Halbdunkel.
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Es ist ziemlich persönlich«, sagte sie.
Er legte die Zeitung weg, ein afrikanisches Businessmagazin.
»Wenn du hättest wählen können, hättest du dich dann dafür entschieden, geboren zu werden?«
Er schwieg eine Weile.
»Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Vermutlich.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu.
»Findest du die Frage seltsam?«
Er blickte sie nachdenklich an, sah aber nicht verstimmt aus.
»Warum willst du das wissen?«
Sie ballte die Hände auf dem Schoß.
»Ich habe oft darüber nachgedacht, wie meine Entscheidung ausgefallen wäre, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich lieber darauf verzichtet hätte. Das ist eine sehr provokante Aussage. Meine Mutter hat sich wahnsinnig darüber geärgert, sie sagte, ich sei miesepetrig und verwöhnt und undankbar. Thomas wurde stinksauer und hat mir vorgeworfen, ich würde ihn und die Kinder nicht lieben, aber darum geht es gar nicht, natürlich liebe ich sie, es geht um etwas anderes, es geht darum, ob man das Leben der Mühe wert findet …«
Er nickte.
»Ich verstehe ungefähr, was du meinst.«
Sie setzte sich auf dem Sofa zurecht.
»Ich weiß, es ist sinnlos, darüber nachzudenken, warum wir hier sind. Wäre es sinnvoll, das zu wissen, dann würden wir die Antwort ja alle kennen. Also ist es sinnlos, darüber zu grübeln. Wir werden es nie erfahren.«
Sie schwieg.
»Aber …?«, sagte er.
»Es scheint jedenfalls keine Belohnung zu sein«, sagte sie. »Eher eine Prüfung. Man soll das alles durchstehen und versuchen, sich möglichst tapfer zu schlagen. Natürlich gibt es Sachen, die wunderbar sind, die Kinder und der Beruf und manche Tage im Sommer, aber wenn ich die Wahl gehabt hätte …«
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Findest du, dass ich verwöhnt bin?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich kann verstehen, dass es so wirkt«, sagte sie. »Besonders wenn man weiß, wie es anderen geht.«
Sie zeigte auf eine der Zeitungen, die auf dem Tisch lagen, vermutlich das Abendblatt , aber es konnte genauso gut der Konkur rent sein. »Der Schlächter von Kigali« lautete die Schlagzeile, und das Foto darunter zeigte Thomas’ Entführer, Grégoire Makuza.
Halenius griff nach der Zeitung.
»Die
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