Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
gleich, sie konnten darauf warten, ihre Verlobung bekam dadurch sozusagen die besondere Dimension, dass sie sich im letzten Moment gefunden hatten.
»Auf der Innenseite des Ringes ist ›Annika‹ eingraviert und dazu ein Datum, 31. 12. …«
Sie stieß den Staatssekretär von sich, stolperte in den Flur und weiter ins Bad, die Klobrille kam ihr entgegen und schlug ihr gegen die Stirn, ihre Eingeweide kehrten sich krampfartig nach außen und beförderten explosionsartig alles heraus, was sich in ihrem Magen befand, jede einzelne Fettucine, jedes Stück Tomate. Halbverdautes spritzte auf das Porzellan der Kloschüssel, traf sie im Gesicht, und sie heulte auf, die Spülung gurgelte, ihre Hände zuckten, und in ihren Ohren pfiff es.
Sie hing keuchend über der Kloschüssel, spürte Halenius’ Hände auf ihren Schultern.
»Brauchst du Hilfe?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das Datum, Silvester, der 31. 12. …?«
»Unser Verlobungstag«, flüsterte sie.
Er setzte sich neben die Toilette auf den Boden und zog Annika an sich. Ihre Zähne schlugen aufeinander wie im Fieber, sie weinte leise an seiner Schulter, bis das Hemd völlig durchnässt und dunkel war. Er wiegte sie sanft, und sie klammerte sich an seiner Schulter fest. Als ihr Weinen nachließ und sie leicht und keuchend gegen seinen Hals atmete, half er ihr hoch.
»Ist er tot? Wird er sterben?«, fragte sie heiser.
»Komm, wir setzen uns aufs Sofa«, sagte er.
Sie riss etwas Klopapier von der Rolle, schnäuzte sich und wischte sich das Gesicht ab.
Es war nicht zu begreifen, aber das Wohnzimmer sah noch genauso aus wie vorher. Die Deckenleuchte und die kleinen Lampen brannten, und die Zeitungen lagen in einem Stapel auf dem Couchtisch. Die Kaffeebecher standen noch da, auf dem Kaffee hatte sich Haut gebildet.
Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa.
»Es ist überhaupt nicht gesagt, dass es die Hand von Thomas ist«, sagte Halenius. »Zwar ist es sein Ring, aber das muss ja nicht bedeuten, dass es auch seine Hand ist. Die Jungs von der Kripo haben angerufen, sie warten noch auf das Ergebnis einer Fingerabdruckanalyse. Danach wissen wir es sicher.«
Sie atmete jetzt leiser.
»Analyse?«
»Jeder, der nach Kenia einreist, muss beim Zoll seine Fingerabdrücke hinterlassen.«
Sie schloss die Augen.
»Aber selbst wenn es Thomas’ Hand sein sollte, ist das noch keine Tragödie«, sagte Halenius. »Ist er Rechtshänder?«
Annika nickte.
Er strich ihr übers Haar.
»Thomas schafft das«, sagte er. »Man stirbt nicht davon, dass einem eine Hand amputiert wird.«
Sie räusperte sich.
»Aber blutet das nicht wie verrückt? Vielleicht verblutet er?«
»Es blutet kräftig, zwei Arterien verlaufen bis in die Hand, aber die Blutgefäße ziehen sich in einer Art Reflex zusammen. Wenn man nachhilft und den Arm hochhält und abklemmt, kommt die Blutung nach zehn, fünfzehn Minuten zum Stillstand. Gefährlicher ist das Risiko einer Infektion.«
»Tut das nicht weh?«, flüsterte sie.
»Doch, man kann von dem Schmerz besinnungslos werden, und zwei, drei Tage sind die Schmerzen sehr stark.«
Sie blinzelte ihn an.
»Wusste der Verbindungsmann das alles? Über Arterien und Reflexe?«
»Ich habe einen Freund angerufen, der Arzt im Krankenhaus von Söder ist.«
Sie musterte sein Gesicht, er dachte wirklich an alles. Jetzt waren seine Augen wieder ganz rot, als hätte er auch geweint. Sie strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, und er lächelte sie an. Sie zog die Beine aufs Sofa und rollte sich zusammen, den Kopf auf Halenius’ Schoß. Das Licht der kleinen Dekolampen spiegelte sich in den Fensterscheiben, rot und grün vor dem kalten Winterhimmel, die Fransen an den Schirmchen bewegten sich leicht in einem unsichtbaren Luftzug. Sie schlief ein.
*
Unsere Büroeinrichtung ist von derselben Qualität wie unser Journalismus und unsere Pünktlichkeit, dachte Anders Schyman und betastete vorsichtig den Verband an seinem Hinterkopf. Die Sechs-Uhr-Konferenz hatte sich zusehends Richtung halb sieben verschoben, wurde aber aus rein pubertären Gründen immer noch Sechs-Konferenz genannt. Inzwischen war es Viertel vor sieben. Schyman hob den Blick und sah sich um. Er hatte das Gefühl, schon Ewigkeiten an diesem Tisch zu sitzen, während Unterhaltung und Kultur und Kommentar und Sport und Internet und Foto und die Leute vom Newsdesk um ihn herum wirtschafteten und mit überschwappenden Kaffeetassen zu ihren für die Ewigkeit reservierten Stammplätzen unterwegs
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