Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
müssen wir hin!«
»Fahr weiter«, sagte Halenius.
Annika krümmte sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Das alles war ihre Schuld.
Dann war es plötzlich vorbei. Die Männer blieben zurück, und die Straße war wieder asphaltiert. Frida schaltete mit zitternden Händen in den zweiten Gang. Annika sah, dass an ihren Wimpern Tränen hingen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Frida leise.
Halenius rieb sich das Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich weiß es einfach nicht.«
»Aber wohin soll ich fahren?«
Er hielt sich den Kopf.
»Ich weiß es doch auch nicht. Ich habe nur einen Kurs besucht. Das hier stand nicht im Lehrbuch.«
Das Gerümpel um sie herum war verschwunden, tropisches Grün umgab sie plötzlich. Die Straße war eben und von hoch aufragenden Bäumen gesäumt. Hinter hohen Mauern verbargen sich große Häuser.
»Benutzen die Entführer ein ganz normales Handy?«, fragte Annika.
»Warum fragst du?«, sagte Halenius.
»Kannst du ihre SMS beantworten?«
Er blickte sie überrascht an.
»Das habe ich noch nicht ausprobiert.«
»Versuch doch, unsere Lage zu erklären«, sagte sie. »Erklär ihnen, dass ich es vermasselt habe.«
Halenius griff nach seinem Handy und tippte eine lange Mitteilung ein. Frida parkte vor einer Bougainvillea-Hecke und schaltete den Motor aus. Halenius drückte auf »Senden« und wartete gespannt. Das Handy gab einen kleinen entschuldigenden Pieps von sich.
»Scheiße«, sagte er.
»Vielleicht war die Nachricht zu lang«, sagte Annika. »Wenn man zu viel schreibt, wird die SMS in eine MMS umgewandelt. Versuch, den Text zu kürzen.«
Halenius stöhnte und löschte. Die Hitze im Auto nahm schnell zu. Frida ließ das Fenster herunter. Ein Schwall von Vogelgezwitscher erfüllte das Wageninnere.
»Was ist das hier für eine Anlage?«, fragte Annika.
»Mein Golfclub«, sagte Frida.
»Wohnst du hier in der Nähe?«
»So gut wie alle Diplomaten und das UN -Personal wohnen in Muthaiga«, antwortete Frida.
Annika schaute hinaus ins Grüne. Zwischen den Palmen war ein leuchtend grüner Golfplatz zu erahnen.
Sie waren nur wenige Kilometer von Eastleigh entfernt, doch der Kontrast hätte kaum größer sein können.
Wieder gab Halenius’ Telefon den entschuldigenden Pieps von sich.
»Geht nicht«, sagte Halenius.
»Probier mal anzurufen«, sagte Annika.
Halenius drückte auf einen Knopf, hielt den Apparat ans Ohr und ließ ihn wieder sinken.
»Der Teilnehmer ist im Augenblick nicht zu erreichen«, sagte er.
Annika biss sich auf die Lippen.
Das war nicht ihre Schuld. Wenn sie die Schuld an der Situation auf sich nahm, machte sie die Sache kleiner und sich selbst größer, als sie war.
Frida öffnete die Fahrertür.
»Wir können genauso gut reingehen«, sagte sie und deutete auf das Clubhaus, in dem sich offenbar auch eine Bar und ein Restaurant befanden.
»Ich habe noch Salat übrig«, sagte Annika schnell.
Frida schaute sie nicht an.
»Sie haben eine Klimaanlage.«
Die Sonne stand schräg. Donnergrollen lag in der Luft. Annika saß auf der Treppe vor dem noblen Golfclub, der einst Karen Blixen den Zutritt verweigert hatte, weil sie eine Frau war (jedenfalls wurde das in dem Film »Jenseits von Afrika« mit Meryl Streep behauptet).
Annika blickte über den Parkplatz und beobachtete einige schwarze Frauen, die schwere Müllsäcke schleppten, während die Sicherheitsmänner sich im Schatten ausruhten.
Woman is the nigger of the world , dachte sie. Schymans Serientäter war lediglich eins von vielen Beispielen. Sie erinnerte sich noch, wie sie an einem frühen Samstagmorgen im Juni zu einem Massenmord in Dalarna unterwegs war. Sie saß in einem Dienstwagen der Zeitung, und der Fotograf Bertil Strand fasste die Situation zusammen: »Ein Fähnrich ist Amok gelaufen und hat sieben Menschen erschossen. Eine der Toten scheint seine Freundin gewesen zu sein, aber die anderen waren unschuldig.«
Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Es war unglaublich schwül.
Wie viel Schuld hatte jemand, der liebte? Wie viel Schuld hatte sie selbst?
Halenius kam auf die Treppe heraus. Er war wieder ganz blass um den Mund, sein Blick war scharf. Instinktiv stand sie auf.
»Haben sie eine SMS geschickt?«
»Angerufen. Er war außer sich.«
»Weil ich gefilmt habe?«
»Weil wir nicht wie befohlen vor dem Al-Habib angehalten haben. Er hat gesagt, wir hätten den Deal platzen lassen, und wollte eine neue Verhandlungsrunde anfangen. Ich
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