Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
den Wagentyp erkannt, es war ein älterer Mercedes.«
Sie unterdrückte den Impuls, aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Stattdessen hielt sie die Armlehnen des Stuhls umklammert.
»Und wo sind sie jetzt?«, fragte sie.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Jimmy Halenius. »Der LKW war nicht mehr da, als Polizei und Militär am Ort des Überfalls eintrafen, also haben sie ihn vermutlich dazu benutzt, um die Delegationsteilnehmer abzutransportieren.«
Wissen wir nicht. Sieht ganz so aus. Vermutlich.
»Sie wissen im Grunde nichts. Stimmt’s?«
Sie sah, wie Anders Schyman und die beiden Hansel einen Blick wechselten. Der Chefredakteur nahm sich ein Glas und eine Flasche Wasser und fragte etwas zu den Positionssendern, mit denen die Autos ausgerüstet gewesen waren, und dann redeten sie über Positionssender, als wäre das jetzt wichtig, als spielte das irgendeine Rolle. Es war ein deutsches Modell, ein kleines, aber ziemlich leistungsstarkes Gerät, das zwei verschiedene Methoden der Positionsbestimmung kombinierte, GSM und herkömmliche Funkwellen …
Sie merkte, wie die Worte auf sie eindrangen, ohne im Kopf hängenzubleiben, sie gingen zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus, ohne Sinn und Substanz. Positionssender brauchten weder eine äußere Antenne noch Satellitenkontakt, und die kleinste Version, wie offenbar in diesem Fall, war kleiner als ein Handy und wog 135 Gramm und war im Motorraum versteckt gewesen, hinter dem Kühlwasserbehälter …
Sie blickte wieder auf den Riddarfjärden hinaus. Es würde bald schneien. Die Wolken hingen tief über den Dächern.
»Sie haben recht«, sagte Halenius. »Im Grunde wissen wir sehr wenig. Dafür können wir einige Vermutungen anstellen. Es könnte sein, dass es sich um eine Geiselnahme handelt und die Delegationsteilnehmer entführt worden sind. Das ist in diesem Teil der Welt nicht ungewöhnlich. Sie haben vielleicht von den somalischen Piraten gehört, die vor der Küste Schiffe kapern? Das hier könnte eine Landvariante sein.«
»So wie die dänische Familie mit ihrer Yacht?«, fragte Anders Schyman.
»Entführt?«, sagte Annika.
»Wenn es sich um eine Entführung handelt, werden wir es in den nächsten Tagen erfahren, vermutlich schon heute oder morgen.«
Annika konnte nicht länger still sitzen, sie stand auf und ging zum Fenster. Da draußen auf dem Strömmen schwammen Enten. Dass die nicht an den Füßen froren …
»Meistens läuft so was nach einem bestimmten Muster ab«, sagte Jimmy Halenius. »Wenn wir Glück haben, fordern die Entführer nur Lösegeld. Haben wir Pech, handelt es sich um eine politische Geiselnahme, und irgendeine fundamentalistische Gruppierung bekennt sich dazu und will ihre im Ausland wegen Terrorismus inhaftierten Kameraden freipressen oder stellt Forderungen auf, dass sich die Amerikaner aus Afghanistan zurückziehen oder dass der Weltkapitalismus abgeschafft wird. Das wäre sehr viel unangenehmer.«
Annika merkte, wie ihre Hände zitterten, Alien Hand Syndrome .
»Besteht keine Chance, dass sie einfach wieder auftauchen?«, fragte der Chefredakteur. »Unter Schock, aber unverletzt?«
»Doch«, erwiderte Halenius. »Das ist natürlich auch eine Möglichkeit. Da wir aber nichts über die Wegelagerer und ihre Motive wissen, ist jedes Szenario denkbar.«
Er erhob sich und trat zu Annika ans Fenster.
»Von Seiten der Regierung«, fuhr er fort, »werden wir Ihnen alle Informationen zukommen lassen, die uns aus Brüssel und Nairobi erreichen, ebenso von den offiziellen Stellen in den anderen Ländern, die gleichfalls betroffen sind. Wir sprechen also von Großbritannien, Rumänien, Frankreich, Spanien, Deutschland und Dänemark. Diese Informationen entscheiden darüber, wie wir weiter vorgehen. Sie können mit unserer Unterstützung rechnen, ganz gleich, was passiert. Ich habe ja Ihre Mailadresse, ich schicke Ihnen den Bericht der englischen Protokollführerin und die persönlichen Angaben zu den Delegationsteilnehmern, sobald alles überprüft und freigegeben ist. Unter welcher Telefonnummer kann ich Sie erreichen?«
Sie zögerte einen Moment, griff dann in ihre große Umhängetasche und holte ihr Redaktionshandy heraus.
»Die hier«, sagte sie leise, schaltete das Handy an und gab ihre PIN ein.
Schyman erhob sich, und die beiden Männer, die Hans hießen, auch.
»Wir haben ein Gutachten zum Thema Verjährungszeit bei schwerem Frauenfriedensbruch in Auftrag gegeben«, sagte der Staatssekretär leise.
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